Das Handwerk des Toetens
glauben können, als sie es erwähnte, und umständlich nach dem Impressum gesucht, aber es stimmte, es war das Jahr vor dem Krieg in Kroatien, und das wirkte nur um so grotesker auf mich, als sie behauptete, daß es damals schon Strecken gegeben habe, die nicht mehr als sicher galten.
»Ein Bekannter meiner Eltern ist genau in dem Sommer irgendwo in der Krajina vor einem elenden Nest in eine Sperre geraten und von zwei Jugendlichen mit halbautomatischen Gewehren bedroht worden«, sagte sie. »Dabei kann er noch von Glück reden, weil es zu der Zeit in der Gegend längst schon Schüsse auf vorbeifahrende Autos gegeben haben soll.«
Natürlich war das genauso wenig die ganze Wahrheit wie der Schein der Bilder, die ich mir gerade angesehen hatte, aber ich weiß noch, daß ich zum ersten Mal dachte, ich würde etwas von dem Land verstehen, als sie mir dann ein paar von ihren Familienphotos zeigte. Es waren in der Regel nicht weiter bemerkenswerte Aufnahmen, abgesehen davon, daß sie oft viel weniger lange zurücklagen, als ich auf den ersten Blick glaubte, und ich mich über ihre Angaben, von wann sie sein mußten, immer noch wundere. Das lag nicht daran, daß viele schwarzweiß waren, wie ich zuerst angenommen habe, und auch nicht an ihrem weißen oder gezackten Rand, sondern an der Art, wie fast alle darauf Abgebildeten in die Kamera schauten, die an eine ausgestorben geglaubte, unwirsche Rechtschaffenheit denken ließ, rigide Vorstellungen von Stolz und Ehre und den müßigen Trost armer Leute, über den sie irgendwann einmal gesprochen hatte, den schalen Triumph, niemals jemandem etwas schuldig geblieben zu sein, eine Mischung, die noch bei den zufälligsten Schnappschüssen oft den Anschein erweckte, als wären sie in einem Atelier arrangiert worden.
Das Glanzstück war ein Bild von ihrem Vater und seinen drei Brüdern, aufgenommen nicht weit von deren Elternhaus, irgendwann, als sie alle in Deutschland gearbeitet hatten und zum ersten Mal gemeinsam auf Besuch nach Hause gekommen waren. Auf mich wirkten sie darauf trotzdem genauso verschollen wie die Ausgewanderten Anfang des Jahrhunderts, die als Goldgräber nach Amerika gegangen waren und als einzige Nachricht ein Portrait von sich in der Pose des gemachten Mannes an ihre Familien geschickt hatten und nie wieder aufgetaucht waren. Sie trugen Anzüge, Krawatten und, locker über den Arm geworfen, Staubmäntel, obwohl die Sonne fast im Zenit stand und es sengend heiß sein mußte, und hatten sich, herausgeputzt wie die Gockel, buchstäblich ins Nichts gestellt, ganz und gar unwirkliche Figuren, wie sie sich mit ihren Haartollen und absurd spitz zulaufenden Stadtschuhen vor der abweisenden Landschaft präsentierten und stolz auf das Auto hinter sich deuteten, einen riesigen, weißen Schlitten mit schwarzem Dach und Heckflossen, der ebenso gut auf dem Grund eines ausgetrockneten Sees hätte gestrandet sein können, so deplaziert nahm er sich aus, neben ein paar halb verdorrten Büschen, einem Faß, das den Regen auffangen sollte, der wahrscheinlich viele Wochen lang nicht mehr gefallen war, und zwei unauflösbar ineinander verwickelten Kabelrollen.
Der Eindruck war der einer vollkommenen Verlorenheit, und das um so mehr, als im Zweiten Weltkrieg dort ein deutscher Soldat von einem Heckenschützen erschossen worden war, wie Helena erzählte, während sie ihren Zeigefinger auf das Photo legte.
»Angeblich ist es genau an der Stelle geschehen.«
Ich muß sie angesehen haben, als wunderte ich mich, warum sie damit kam, weil sie es wiederholte und danach erst ergänzte, ihr Vater, der damals fünf oder sechs Jahre alt gewesen war, habe es gesehen.
»Er ist ihm direkt gegenüber gestanden«, sagte sie, ohne daß sie davon sonderlich berührt zu sein schien. »Wenn es stimmt, was er immer behauptet hat, muß er von ihm gerade noch ein paar Kekse in die Hand gedrückt bekommen haben und mit seinem Dank dann für alle Ewigkeit zu spät dran gewesen sein.«
Das Bild hat mich seither nicht mehr losgelassen, der Bub in kurzen Hosen, der vorher kaum jemals einen Fremden gesehen haben kann, und vor ihm der Uniformierte, irgendwo in der Einöde, ein einladendes Lächeln und plötzlich seine starr werdenden Augen, ein roter Punkt auf der Stirn, das langsam hervorsickernde Blut und dann erst der Knall, ein donnerndes Rollen über die Hügel hinweg, bis hinüber nach Bosnien, wie sie sich ausgedrückt hat, und eine schreckliche Stille, vom Haus her Geschrei, das Getrappel von
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