Das Haus am Hyde Park: Roman (German Edition)
fuhr zusammen. An der Tür stand ein Mann von Mitte sechzig. Ich weiß nicht, wie ich mir Henriettas Mann vorgestellt hatte, aber nicht so. Wo sie klein war, war er groß und sehr dünn. Kahlköpfig. Sein Anzug war makellos, maßgeschneidert. In jungen Jahren mochte er attraktiv gewesen sein, doch nun wirkte er verbraucht. Seine Augen blickten scharf. Er war der männliche Gegenpart zu Henrietta – klug, selbstbewusst und im Zweifelsfall ein unangenehmer Gegner. Vor meinem geistigen Auge erschien Lucas gleich daneben, die zerzausten Locken, das warme Lächeln, die ausgebeulten Kleider. Ich musste das Bild wegblinzeln.
»Ja, bin ich«, sagte ich und streckte ihm die Hand entgegen. »Ella Fox.« Dass ich mich so vorstellte, erstaunte mich selbst. Fox hatte ich als Kind zuletzt geheißen.
»Dr. Samson«, sagte er barsch. Seinen Vornamen nannte er nicht. »Sie stammen aus Australien?«
Ich nickte. »Meine Mutter war mit Lucas’ Bruder verheiratet. Sie kommt aus Australien. Ich bin dort aufgewachsen.«
»Verstehe. Geben Sie ebenfalls Nachhilfeunterricht?«
Er wusste von Lucas’ Unterricht? Aber natürlich. Wahrscheinlich hatten sie ihre Affäre all die Jahre mit der Ausrede bemäntelt, dass Henrietta Lucas fachkundig zur Seite stand.
»Nein«, erwiderte ich. »Ich bin Redakteurin, im Moment aber arbeite ich bei Lucas als Haush …«
»Für welches Fachgebiet? Für welchen Verlag?«
Auch in seiner Direktheit ähnelte er Henrietta. Ich nannte ihm die Verlage, für die ich in Australien und England gearbeitet hatte. Er hakte nach. Ich nannte Autoren, Titel – einige Romane, jedoch überwiegend Sachbücher. Ich sprach zu schnell, ich redete zu viel, aber seine Gegenwart machte mich nervös.
Er nickte. »Ich brauche einen Redakteur. Was verlangen Sie?«
»Es tut mir leid, ich bin nicht mehr als Redakteu …« Ich unterbrach mich selbst. Natürlich könnte ich als Redakteurin tätig sein. Ich hatte meine Kenntnisse nicht verloren. Meine Berufserfahrung auch nicht. Und möglicherweise musste ich Lucas’ Haus sehr bald verlassen. Dann bräuchte ich Arbeit.
»Es ist schwierig, eine Summe zu beziffern, solange ich das Projekt nicht näher kenne«, erwiderte ich und merkte, dass meine Ausdrucksweise gleich gewandter wurde. »Können Sie zu diesem Zeitpunkt schon Details benennen?«
»Ich verliere mich in Details. Ich arbeite seit zwanzig Jahren an diesem Projekt.« Er lächelte und setzte sich mir gegenüber in den Sessel. Die einschüchternde Wirkung ließ augenblicklich nach.
Auch ich empfand mich nun nicht mehr als Ella, die Haushälterin. Nun war ich Ella, die Redakteurin. Ich holte mein Notizbuch aus der Tasche und nahm die Kappe meines Füllers ab. Es war ein seltsames und doch so vertrautes Gefühl. Ich hatte viele derartige Vorbesprechungen erlebt.
Er beugte sich vor und legte die Hände zusammen. Er wirkte völlig verändert, weniger gebieterisch – geradezu beflissen. Es ging um die Familienchronik. Erzählt über drei Generationen. Eine, so behauptete er, absolut fesselnde Geschichte.
Ich hörte schweigend zu. Familiengeschichten galten, außer bei der betroffenen Familie selbst, als notorisch öde. Doch nach und nach weckte er mein Interesse. Dr. Samsons Vater war ein berühmter Biologe gewesen. Sein Großvater ebenfalls Arzt. Beide hatten während ihres Berufslebens detaillierte Journale angelegt. Henriettas Mann – sein Vorname war mir noch immer unbekannt – wollte Auszüge daraus verwenden. Am Ende sollte das Buch eine Mischung aus Familienchronik, Sozialgeschichte, wissenschaftlicher Abhandlung und Nachschlagewerk zu den Fortschritten der englischen Medizin im Verlaufe eines Jahrhunderts sein.
»Das klingt faszinierend«, sagte ich. Und meinte es auch so.
»Es ist ein absoluter Alptraum. Ich habe kistenweise Material, Tagebücher, Briefe, alte Ausgaben des British Medical Journal , Fotografien, Krankenakten …«
»Ist das in irgendeiner Form katalogisiert?«
»Es ist perfekt katalogisiert. Sogar nach Stichworten. Mein Teil ist geschrieben. Die Tagebücher meines Vaters und meines Großvaters sind bereits transkribiert. Was mir fehlt, ist jemand, der das alles zusammenführt, der dem Ganzen eine erzählerische Form, eine Struktur gibt.«
Zu meinem eigenen Erstaunen war ich interessiert. »Wann müsste dieser Jemand anfangen?«
»Wann immer dieser Jemand kann. Haben Sie Referenzen?«
»Ja, viele.« Sie zu besorgen wäre eine Angelegenheit von ein oder zwei E-Mails. Die
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