Das Haus am Hyde Park: Roman (German Edition)
reizend aussah. Doch sie hatte ausgesehen, wie ich sie kannte – durchschnittlich, ernst und verdrießlich – nur jünger.
Lucas hatte mir das Foto wieder aus der Hand genommen und das Bild verliebt angeschaut. »Ich kenne niemanden, der es intellektuell mit ihr aufnehmen kann. Selbst damals schon konnte sie jedes Argument im Nu entkräften. Sie ist so originell, so klug. Eine wirklich außergewöhnliche Frau.«
Bei meinem nächsten Besuch hatte ich besser aufgepasst. Wieso war mir das entgangen? Lucas berauschte sich an ihrer Gegenwart. Nicht an ihrem Aussehen, nein, an ihrem Verstand. Äußerlichkeiten waren ihm egal. Sonst wären sein Äußeres und sein Haus nicht so chaotisch gewesen. Er brannte für Ideen, Argumente, Diskussionen und eigenwillige Gedanken. Auf geistiger Ebene ergänzten er und Henrietta sich perfekt. An jenem Abend, und bei allen weiteren Besuchen, hörte ich ihnen aufmerksam zu. Ihre Gespräche waren leidenschaftlich, lebhaft, informiert. Sie stritten, sie lachten, sie diskutierten und stritten erneut. Hinterher – manchmal ging Henrietta vorher noch eine Stunde mit Lucas auf sein Zimmer, und dabei habe ich definitiv nie zugehört – war Lucas ungeheuer glücklich. Nicht nur, weil Henrietta bei ihm gewesen war, sondern auch, weil sie wieder fort war. Sie war die perfekte Frau für ihn. Sie war ihm nicht nur intellektuell gewachsen und ging gelegentlich mit ihm ins Bett. Sie ließ ihm auch den nötigen Freiraum. Seither hatte ich mich sehr bemüht, nett zu ihr zu sein, aber ihr Benehmen mir gegenüber änderte sich nicht. Sie blieb abschätzig und barsch. Unhöflich.
Ich hatte Charlie natürlich alles berichtet. Was für schlechte Manieren Henrietta hatte. Dass sie mich an Frau Pfeffertopf erinnerte. Ich hatte ihm ein Foto der beiden geschickt, das ich unter dem Vorwand gemacht hatte, meine neue Kamera zu testen.
Siehst du, was ich meine?
Charlie hatte geantwortet: Ja, gut, sie ist keine Schönheit. Na und? Ich auch nicht. Lucas liebt sie. Und sie ihn offenbar auch. Alles andere ist unwichtig. Außerdem findet vor deinen Augen niemand Gnade, wenn es um deinen teuren Lucas geht. Also spiel nicht länger den Zerberus, und sei froh, dass er so froh ist.
Aber sie ist der Horror , hatte ich in Kindersprache erwidert, zu Charlies und meiner Belustigung.
Vielleicht ist sie ja eine Granate im Bett , hatte Charlie zurückgemailt.
Bah! , dann wieder ich.
Als Henrietta abends eintraf, war ich allein im Haus. Die Studenten waren bei ihren Schülern. Lucas hatte am späten Nachmittag kurz in die Küche geschaut und verkündet, dass er einen Termin habe, aber rechtzeitig wiederkommen würde.
Um kurz vor sieben ging die Haustür auf.
»Ich bin in der Küche, Lucas«, rief ich. »Henrietta ist noch nicht da.«
»Ist sie wohl«, kam als Antwort.
Henrietta. Ich hatte nicht gewusst, dass sie einen Schlüssel besaß.
Sie erschien in der Küche. »Ich bin etwas früh«, sagte sie. »Schön, Sie zu sehen, Ella.« Wir berührten uns flüchtig an der Wange.
Sie hatte sich nicht verändert. Sie trug noch immer ihren Knoten, der Blick war so blau und scharf wie stets. Sie hatte einen teuren Mantel an. Als ich anbot, ihn aufzuhängen, schüttelte sie den Kopf. »Ich lasse ihn an. In diesem Haus ist mir immer kalt.«
»Ich mache gerade das Abendessen«, sagte ich. »Lucas sollte auch bald hier sein. Wollen Sie im Salon warten oder hier in der Küche bleiben?«
»Ich sehe Ihnen beim Kochen zu.«
Ich fragte nach dem Wetter. Ja, draußen war es kalt, bestätigte sie. Wir sprachen kurz über die weiteren Aussichten, Schnee war angekündigt, am Nachmittag hatte es gegraupelt. Ich bot ihr einen Tee an. Sie lehnte ab. Ein Glas Wein? Später, sagte sie. Ich wusste nicht, ob Lucas ihr erzählt hatte, warum ich in London war, ob Lucas ihr irgendetwas aus seinem Leben, über seine Familie erzählte, oder ob sich ihre Unterhaltungen auf einen intellektuellen Austausch beschränkten.
Henrietta schaute mir schweigend zu, während ich den Salat machte. Die Gemüselasagne war bereits im Ofen. Früher hätte ich mich bemüht, ein Gespräch in Gang zu halten, das Schweigen zu durchbrechen. Nun hielt ich es stundenlang, ohne ein einziges Wort zu sprechen, aus. Deshalb war der Job auf dem Weingut genau das Richtige gewesen. Die Arbeit in den Reben war eine einsame, eine Unterhaltung mit anderen Arbeitern war weder nötig noch möglich gewesen.
Umso verblüffter war ich, dass mir Henrietta eine Frage stellte.
»Wie
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