Das Haus am Hyde Park: Roman (German Edition)
nein.«
»Haben Sie ein Alkoholproblem?«
»Es schmeckt mir nicht.«
»So was.« Sie trank einen großen Schluck Gin und stellte das Glas ab. »Wie es scheint, habe ich Sie mit meinen Fragen neulich aus der Fassung gebracht. Ich entschuldige mich dafür.«
Das hatte ich nicht erwartet. »Danke.«
»Offensichtlich ist das für Sie ein heikles Thema. Stimmt, was Lucas mir erzählt hat? Dass Sie keinerlei Kontakt zu Ihrem Mann mehr haben?«
Ich dachte an Charlies Rat. Und zwang mich, auch an Lucas zu denken. »Nein, habe ich nicht«, sagte ich so höflich, wie es mir möglich war.
»Das war Ihr Wunsch, nicht seiner, oder? Sie haben nicht versucht, das gemeinsam durchzustehen?«
Meine Hände ballten sich schon jetzt zu Fäusten. »Es war nicht so simpel, wie Sie es darstellen, Henrietta.«
»Ich weiß, Lucas hat mir die Umstände geschildert. Was für ein tragischer Unfall. So viel schwere Schuld, bei so vielen, aus so vielen Gründen. Wie geht es Ihrer armen Schwester? Um sie sollten Sie sich wohl die größten Sorgen machen. Sie muss doch ganz besonders unter ihrer Schuld leiden.«
Ich brachte nur mit Mühe eine Antwort hervor. »Ihr geht es gut. Sie tritt wieder jede Woche in der Fernsehshow meiner Mutter auf. Sie hat das problemlos überstanden.«
»Gut? Das halte ich für ausgeschlossen. Sie hat sich um ihren kleinen Neffen gekümmert, er stirbt, und davon soll sie sich problemlos erholt haben? Sie müsste ein Unmensch sein, wenn sie nicht darunter leiden würde. Wo lebt sie?«
»In Melbourne.«
»Und was für eine Fernsehshow ist das?«
Endlich ein unverfängliches Thema. Ich stürzte mich auf die Frage und beantwortete sie in aller Ausführlichkeit. Ungeachtet der Tatsache, dass Henrietta reichlich desinteressiert schien, mit ihrem Brötchen herumspielte und die Blicke schweifen ließ. Ich redete immer weiter, sodass ihr gar keine andere Wahl blieb, als mir zuzuhören.
Ich erzählte ihr, wie alles seinen Anfang genommen hatte. Mum war eines Nachmittags in einem Shoppingcenter gewesen. In der Lebensmittelabteilung hatte großer Trubel geherrscht. Und der hatte Mum angelockt. Das Lärmen kam von einem Fernsehteam, das Kandidaten für einen Speed-Cooking-Event suchte – es galt, im Handumdrehen aus sechs Zutaten ein Zwei-Gänge-Menü zu zaubern. Zu gewinnen gab es eine Küchenmaschine und einen Gastauftritt in einer morgendlichen Talkshow im Kabelfernsehen. Mum trug sich in die Liste ein. Warum, bleibt ein Mysterium. Sie kochte ausgesprochen ungern. Angeblich wollte sie Zeit überbrücken. Sie war später noch mit einer Freundin verabredet, schick gekleidet, frisch frisiert, sah toll aus, war gut drauf. Wie immer.
Als sie aufgerufen wurde, hatte sie dem Gratiswein schon reichlich zugesprochen. Nervös war sie auch. Wenn Mum beschwipst ist und nervös, dann redet sie. Und redet. Und so betrat sie die Bühne, das Filmteam filmte, eine Menge versammelte sich, und Mum quatschte von der ersten Sekunde an drauflos. Und hörte nicht mehr auf. Sie packte sich die Zutaten und sagte, was ihr in den Sinn kam. »Die Spaghetti sehen wie Würmer kurz vor dem Erbrechen aus.« Als sie den Puderzucker für die Kuchenglasur abmaß, sprach sie unentwegt, mit verstellter Stimme. »Gib dem Affen Zucker! Gib dem Affen Zucker!« Die Umstehenden begannen zu lachen. Je lauter sie lachten, umso ulkiger wurde Mum. Ich habe die Aufnahme gesehen. Mum war auf wahnwitzige Weise lustig, fast schon überdreht, doch man musste einfach hinsehen und lachen. Irgendwie gelang es ihr, dabei auch noch zu kochen, obwohl die Spaghetti-Soße ein kleines Debakel wurde und die Kuchenglasur ein großes. Die Frau, die gegen Mum angetreten war, wirkte trist und farblos, obwohl sie eindeutig die bessere Köchin war. Dann kam ein Winzer auf die Bühne und bot an nachzuschenken. Mum schnappte ihm das Glas förmlich aus der Hand, hielt es in die Kamera, zwinkerte, sagte: »Prost, alle miteinander!«, leerte das Glas in einem Zug, strahlte und begann, Food, Glorious Food aus dem Musical Oliver! zu singen. Sie wusste nicht nur jedes Wort, sie traf auch jeden Ton, allerdings hatte Jess uns das Stück auch unzählige Male vorgesungen. Dann sang Mum My Favourite Things aus The Sound of Music , änderte aber den Text. Sie zählte darin auf, was sie an deutschen und österreichischen Gerichten kannte: Wiener Schnitzel, Sauerkraut und Brezeln. Die Kamera hielt drauf, die Menge wurde immer größer.
Mum verlor den Wettbewerb. Die Menge buhte. Zwei Tage
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