Das Haus am Leuchtturm: Roman (German Edition)
wetten, dass sie tagsüber nie geschlafen hat.«
Isabella würde lieber Gift nehmen, als seine Mutter um Rat zu bitten. Mrs. Winterbourne sieht aus wie ein Engel: sanfte Kurven, blonde Locken, große blaue Augen und ein einfältiges Lächeln, doch unter dieser Oberfläche besteht sie aus Stahl. Isabella hat Arthur nie erzählt, wie Mrs. Winterbourne sie am Abend ihres Hochzeitsmahls beiseitegenommen und ihr gesagt hat, Arthur habe ihres Erachtens unter seinem Niveau geheiratet, und sie solle sich daher größte Mühe geben, um sich die Haltung und die Manieren anzueignen, an die ihre Söhne gewöhnt seien. Sie hat nie mit ihm darüber gesprochen, weil sie vermutet, dass er seiner Mutter zustimmen würde. Seine ganze Familie würde ihr zustimmen, vor allem der salbungsvolle Percy und das zitternde Mäuschen, das er seine Frau nennt.
Arthur ging zur Wiege hinüber. Die Spätnachmittagssonne fiel durch die Läden und beleuchtete die cremeweiße Spitzenbettwäsche und die unglaublich weiche Wange ihres Sohnes. »Er soll kein Schwächling werden.«
»Er ist doch noch neu auf dieser Welt«, murmelte sie. »Lass ihn eine Weile schwach sein.«
Arthur verschränkte die Hände hinter dem Rücken, als fürchtete er, das Kind sonst auf den Arm zu nehmen. Er verzog missbilligend die Lippen, während er seinen Sohn musterte, ein Blick, mit dem er auch den Schliff eines Diamanten betrachtete. »Er ist kleiner als erwartet.«
»Etwas über sechs Pfund.«
Und das war‘s. Er drehte sich um, die Hände noch immer hinter dem Rücken, und verließ das Zimmer. Sie stand auf und beugte sich über Daniels Wiege, streichelte den Flaum auf seinem warmen Kopf, atmete den süßen Milchgeruch ein und schwor, dass sie ihn für zwei lieben werde.
Isabella öffnet die Augen. Es ist zu viel: Die Erinnerung an Daniel – warm und atmend, nicht kalt und still – hat ein Messer in ihrem Herzen herumgedreht. Wie sehr sie sich wünscht, die Kiste aus Walnussholz zu öffnen, ihr schwarzes Band wieder herauszuholen und den Nachmittag damit zu verbringen, jedes einzelne Glied des Korallenarmbands zwischen Daumen und Zeigefinger zu drehen und die letzte lebendige Wärme ihres Babys herauszusaugen. Aber sie wagt es nicht. Es muss versteckt bleiben, bis sie in Sydney ankommen. Dort wird sie es zurückholen und irgendwie aus dieser elenden Ehe fliehen und Arthur und seine giftige Familie hinter sich lassen. Dann wird auch dieser verfluchte Sturm aufhören, und die ruhige See und der Sonnenschein werden wieder ihr gehören.
Am übernächsten Morgen sucht Mr. Harrow sie klugerweise auf, während Arthur mit dem Kapitän und Meggy im Frachtraum beschäftigt ist, wo es um eine Auseinandersetzung wegen irgendwelcher Marmorfliesen geht. Arthur transportiert nämlich nicht nur den Amtsstab, er exportiert auch kostbare Fliesen und Teppiche. Je weniger Isabella über seine Geschäfte weiß, desto glücklicher ist sie. Doch Arthur ist angespannt wegen der Transaktion und auch weil er fürchtet, dass die Mannschaft die Ware stehlen oder beschädigen könnte.
Als Mr. Harrow an die Kabinentür klopft, macht ihr Herz einen Sprung. Sie will nicht noch eine von Arthurs Lektionen ertragen.
»Mr. Harrow?«, fragt sie misstrauisch.
»Es tut mir leid, Mrs. Winterbourne, ich werde mich kurzfassen. Ist es möglich, dass Sie wegen unseres … Zusammentreffens in der Kombüse unter Deck gehalten werden?«
Isabella weiß, dass eine Frau ihrer Position ihn mit einer leichthin gesprochenen Bemerkung davonschicken müsste, ohne die Aufmerksamkeit auf die Privatangelegenheiten ihres Mannes zu lenken. Doch sie sieht keinen Sinn in solchen Verhaltensregeln. »Ja. Ich habe es ihm erklärt, aber er ist ein zorniger Narr.«
»Ich fühle mich schrecklich. Soll ich mit ihm sprechen?«
»Nein, es würde die Sache nur verschlimmern.«
Er schaut sich um. »Wenn ich irgendetwas tun kann … Ihr Verlust hat mich tief berührt.«
»Und mich der Ihre«, sagt sie und meint es aufrichtig. Ein kleines Funkeln erwacht in ihrem Herzen, Hoffnung keimt auf. Vielleicht ist das Eis doch nicht von Dauer.
»Es tut mir leid, dass ich so lange gebraucht habe, um zu begreifen, was passiert ist. Das Wetter hat uns ziemlich durcheinandergebracht.«
Die Erwähnung des Wetters weckt in ihr ein leises Unbehagen. Sie erinnert sich plötzlich, dass sie vergangene Nacht geträumt hat, wie sich die graue See hob und senkte, dass sie durch die Planken, durch die Kabine spürte, wie sie Arthurs Koje
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