Das Haus am Leuchtturm: Roman (German Edition)
nicht halb eingebildet vor den Wolken.
Ein Licht. Den Leuchtturm, der in der nebligen Ferne funkelnd zum Leben erwacht.
Sie schleppt sich aus dem Wasser, dessen Gewicht sie langsam und schwerfällig macht. Sie ist weder hungrig noch müde, noch hat sie Schmerzen. Sie konzentriert sich darauf, zum Leuchtturm zu gelangen. Es sind nur etwa fünfzehn Meilen. Nicht mehr weit, nicht mehr weit. Vielleicht schafft sie es bis morgen, bevor er wieder zum Leben erwacht.
Was danach kommt, weiß sie nicht.
Isabella kann vor Aufregung kaum schlafen. Sie kämpft gegen den Drang, die ganze Nacht zu laufen; sie würde zusammenbrechen, bevor sie dort ist. Schließlich schläft sie ein. Als sie aufwacht, kann sie ihn sehen. Die Landzunge winkt sie durch den zarten Nebelschleier herbei. Sie kann den rot-weißen Leuchtturm jetzt sehen. Nicht mehr weit, nicht mehr weit. Sie sammelt Früchte und trinkt aus einem Bach, ist aber unruhig und will aufbrechen, trotz der unerträglichen Sonne und Hitze. Das Ende ist endlich in Sicht.
Langsam geht sie über den Strand, ruht sich häufig aus, dann noch ein Stück und noch ein Stück.
Aber es ist unmöglich. Sie schafft es nicht an einem Tag. Wenn sie gesund wäre und keine Last mit sich tragen würde und den ganzen Tag im Schatten hoher Eichen gehen könnte, dann vielleicht. Aber sie hat Angst, sich umzubringen, wenn sie sich zu hart antreibt. Am späten Vormittag sucht sie wieder Schutz im Wald. Am späten Nachmittag geht sie weiter. Sie sieht, wie das Licht angeht, und würde am liebsten schluchzen. Eigentlich wollte sie um diese Zeit schon da sein. Sie will nicht kurz vor der sicheren Zuflucht sterben.
Sie schläft lange und tief. Ihr Körper ist an seine Grenzen gelangt. Sie kann es nicht riskieren, in der Hitze weiterzugehen, also wartet sie tagsüber und steht auf, als die Sonne nach Westen gezogen ist. Ihre Beine sind wie Gelee, ihre Füße brennen. Sie rappelt sich auf und zieht an dem verhassten Seil. Fast da, fast da.
Ein Fuß. Der andere Fuß. Der Strand wird zunehmend steinig, als sie sich dem Leuchtturm nähert. Ein Fuß. Der andere Fuß. Jeder Schritt dauert eine Ewigkeit. Lebe, Isabella , befiehlt sie sich selbst. Du darfst jetzt nicht zusammenbrechen.
Der Leuchtturm ist nur nach einem felsigen Aufstieg von etwa zehn Fuß Höhe zu erreichen. Sie überlegt, ob sie einen Umweg durch das Gebüsch nehmen soll, fürchtet aber, sich ohne den Ozean an ihrer Seite zu verirren. Sie bindet sich die hölzerne Kiste wieder auf den Rücken und beginnt zu klettern.
Die Dämmerung bricht herein. Über ihr segeln Möwen dahin, und der Wind frischt auf. Sie geht gebeugt, ertastet sich mit bloßen Händen und Füßen den Weg über die Felsen, stöhnend und keuchend. Sie rutscht aus, stolpert vorwärts und reißt sich die verletzte Hand an einer scharfen Felskante auf. Doch jetzt kann sie nichts mehr halten, nicht einmal frisches Blut. Vorwärts, vorwärts. Höher und höher. Bis sie schließlich oben steht und der Leuchtturm strahlend hell zum Leben erwacht, gerade als sie hinaufschaut. Ihr Licht in der Dunkelheit. Jetzt ist sie hier. Jetzt muss alles gut werden.
Es muss.
In ihrem Kopf verschwimmt alles. Ihre Ohren klingeln.
Sie geht um den Leuchtturm herum, ihre Füße sind bleischwer, und dann entdeckt sie das Häuschen, kaum mehr als ein hölzerner Verschlag, der an die Seite des Leuchtturms gebaut ist. Mit allerletzter Kraft hebt sie die Hand und klopft schwach an die Tür. Sie fürchtet, keine Antwort zu erhalten, und wartet einige Sekunden, bevor sie erneut anklopft. Diesmal ruft sie: »Hilfe!« Ihre Stimme klingt so schwach, dass es ihr Angst macht. »Ich brauche Hilfe.« Sie sieht, dass sie einen Blutfleck an der Tür hinterlassen hat. Sie dreht ihre Handfläche zu sich. Das Blut sieht dunkel aus im Dämmerlicht.
Die Tür schwingt auf. Isabella blickt in die schwarzen Augen eines großen, schlanken Mannes von etwa vierzig Jahren. Seine Augen werden groß, als er sie sieht.
»Bitte, bitte«, sagt sie. Mehr bringt sie nicht heraus. Alle anderen Wörter sind verschwunden, und sie kippt nach vorn, fällt auf die Knie. Er fängt sie in seinen starken Armen auf und zieht sie mühelos hinein. Sie sieht flüchtig einen dämmrigen Raum, flackerndes Licht, dann wird alles grau.
Als sie die Augen öffnet, ist es Nacht. Eine Kerze brennt, und sie liegt in einem schmalen Bett auf einer rauhen Decke.
Sie blinzelt, um sich zu orientieren. Auf einem Hocker neben ihr sitzt ein bärtiger
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