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Das Haus an der Montego Bay: Roman (German Edition)

Das Haus an der Montego Bay: Roman (German Edition)

Titel: Das Haus an der Montego Bay: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ava Bennett
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Pit Hensen hat meinem Vater gegenüber kein Wort über meine Flucht verlauten lassen. Im Gegenteil, er hat es mir sogar am nächsten Tag unter dem Vorwand, dass er mich zu einem Besuch in sein Kontorhaus eingeladen hat, ermöglicht, Hauke Jessen zur Rede zu stellen.
    Aber ich will alles der Reihe nach erzählen. Ich erinnere mich an diesen grauenhaften Tag nämlich, als wäre es gestern gewesen: nach durchwachter Nacht schleiche ich mich in das Totenzimmer, als wäre nichts geschehen. Alle sind sie da. Vater, der Pastor, meine schluchzende Schwester und Heinrich, der wie immer eine große Ruhe ausstrahlt. Wenn die wüssten, dass ich eigentlich schon fort sein wollte!, geht es mir durch den Kopf, als ich einen flüchtigen Blick auf Mutter werfe. Sie sieht aus, als ob sie schliefe. So friedlich. Das ist mir gestern gar nicht aufgefallen. Gestern kommt mir vor, als sei es in einem anderen Leben gewesen. Als sei inzwischen eine halbe Ewigkeit vergangen. Ich habe mich über Nacht verändert. Nie wieder werde ich die kleine unbeschwerte Hanne Asmussen sein, die gern lacht und Schabernack treibt. Eine, mit der es das Leben bislang gut gemeint hat. Jetzt bin ich Halbwaise und von einem Mann schnöde verraten worden. Noch klammere ich mich an die Hoffnung, dass ich ihm verzeihen kann. Noch möchte ich glauben, dass er nicht anders konnte, als mich zu versetzen …
    Das Heulen meiner Schwester geht mir auf die Nerven. »Hör endlich auf zu flennen!«, schnauze ich Lene an, die vor Schreck einen Moment verstummt, bevor sie erneut aufschluchzt.
    Ich bin froh, als Anna ihren Kopf zur Tür hineinsteckt und Vater und mich zaghaft bittet, mitzukommen, da Besuch gekommen sei.
    Ich erschrecke fast zu Tode, als ich Pit Hensens stattliche Gestalt am Fenster des Salons sehe. Ich will gerade den Rückzug antreten, als er sich zu uns umdreht. Nun kann ich mich nicht mehr aus dem Staub machen. Er kondoliert Vater. Vater fragt, woher er bereits vom Ableben seiner geliebten Frau wisse. Mir bleibt fast das Herz stehen, doch Pit Hensen versichert Vater, dass sich die Nachricht über die Dienstboten wie ein Lauffeuer verbreitet habe. Vater glaubt ihm aufs Wort und lässt sich ergriffen von dem Nachbarn die Hand drücken. Ich zucke zusammen, als er danach auf mich zukommt. »Ihnen auch mein herzlichstes Beileid, Fräulein Asmussen«, sagt er und drückt auch mir die Hand. Ich kann immer noch nicht weinen. Wie gut, dass ich zu diesem Zeitpunkt nicht weiß, wann die Tränen endlich fließen werden. Und zwar nicht aus Trauer, sondern vor Wut und Scham!
    Pit Hensen wendet sich an Vater. »Hätten Sie etwas dagegen, wenn ich Ihre Tochter ein wenig entführen würde. Sicher wird bald der Bestatter erwartet, und das wollen Sie Ihrer Tochter sicher ersparen.«
    Vater nickte eifrig. »Ja, ich wollte sie gleich mit ihrer Schwester und dem Schwager fortschicken.«
    »Und wenn ich Ihrer Tochter währenddessen das Kontorhaus zeigte, wäre das in Ihrem Sinne?«
    Vater scheint aufrichtig gerührt. »Das würden Sie tun?« Er mustert mich fragend. Wahrscheinlich wundert er sich, dass ich nicht protestiere. Er muss doch annehmen, dass ich Pit Hensen nach wie vor verabscheue. Ich senke den Blick und flüstere: »Mir ist alles recht!« Meine Demut schiebt Vater mit Sicherheit auf das traurige Ereignis.
    »Ich bringe sie Ihnen nachher wohlbehalten zurück«, bemerkt Pit Hensen. Das lässt mich aufhorchen. Hatte er nicht versprochen, er würde mich mit Hauke Jessen ziehen lassen, ohne mich meinem Vater zu verraten? Wieso versichert er ihm nun, dass er mich zurückbringt? Da stimmt etwas nicht. Ich werde skeptisch, versuche aber, es vor meinem Vater und Pit Hensen zu verbergen.
    Wenn ich da schon gewusst hätte, was auf mich zukommen sollte … aber in diesem Augenblick spürte ich nur eine dunkle Ahnung in mir aufsteigen. Noch war sie nicht in Worte zu fassen, aber sie war da und machte sich in meinem Bauch wie ein Mühlstein breit.
    Jedenfalls war ich heilfroh, als mein Nachbar und ich endlich das Haus meines Vaters verlassen hatten. Ich konnte meinen Argwohn nicht länger verbergen.
    »Wieso versprechen Sie meinem Vater, dass Sie mich zurückbringen, obwohl Sie doch genau wissen, dass ich nicht mehr nach Hause zurückkehre?«, fuhr ich ihn an, bedauerte es allerdings sofort. Warum war ich gegenüber dem Mann, der mich mit keinem Wort verraten hatte, so ungehalten?
    »Weil es die Wahrheit ist«, erwiderte er ungerührt. »Ich würde Ihren armen Vater bestimmt

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