Das Haus an der Montego Bay: Roman (German Edition)
Büro, als ich ihn heute Morgen zur Rede stellen wollte. Ich schickte dann einen Burschen zu seiner Wohnung, doch der hat ihn nicht angetroffen. Leider. Das wollte ich Ihnen eigentlich schon längst gesagt haben, aber befürchtete, Sie würden es mir nicht glauben. Deshalb habe ich Sie hergebeten, damit Sie sich selbst davon überzeugen können.« Pit Hensen sah mich beinahe mitleidig an.
Mir schwante in diesem Augenblick Übles, aber ich versuchte, die Fassung zu wahren. »Ich glaube Ihnen auch jetzt noch kein Wort. Ich werde mich persönlich davon überzeugen, dass er nicht in seiner Wohnung ist!«, stieß ich gequält hervor.
»Gut, dann kommen Sie«, seufzte Pit Hensen.
Ich sah ihn irritiert an. »Wollen Sie mitkommen?«
Er nickte. Obwohl mir der Gedanke, dass er mich begleiten wollte, missfiel, protestierte ich nicht. Tief in meinem Inneren ahnte ich, dass ich Hauke Jessen nicht in seiner Wohnung vorfinden würde …
Schweigend verließ ich gemeinsam mit Pit Hensen das Kontorhaus durch die Hintertür, um mit ihm kurz darauf die knarrende Stiege bis unter das Dach des Speichers hinaufzusteigen.
»Ist das bei Ihnen üblich, dass Ihre Mitarbeiter auf dem Dachboden nächtigen?«, fragte ich plötzlich in vorwurfsvollem Ton.
»Nein, Fräulein Asmussen, das ist keineswegs üblich. Er hätte in meinem Haus ein Zimmer haben können, aber er wollte ein eigenes Reich, wie er sagte. Und da fiel mir die kleine Wohnung ein, die sich einmal ein Lagermeister hier oben eingerichtet hat.«
Er hielt vor einer Tür.
»Sie haben es so gewollt«, sagte er. Wieder klang Mitleid mit. Etwas, das ich überhaupt nicht gebrauchen konnte. Was ich fühlte, war eher unbändiger Zorn. Ich klopfte ungeduldig. Wie befürchtet, erhielt ich keine Antwort.
»Bringen wir es hinter uns!« Pit Hensen öffnete die Tür und betrat das Zimmer. Ich folgte ihm auf den Fuß und sah mich suchend um. Der Kleiderschrank stand offen und war gähnend leer. Das verwühlte Bett aber schien vor nicht allzu langer Zeit benutzt worden zu sein, und auf dem Nachtschrank stand ein Becher. Ich nahm ihn und roch daran. Hauke schien erst kürzlich einen Grog getrunken zu haben. Im Aschenbecher lag eine halb gerauchte kalte Zigarre. Ich konnte mir nicht helfen, es sah so aus, als wäre Hauke Jessen überstürzt abgereist. Mit einem Blick auf Pit Hensens wissende Miene glaubte ich zu wissen, was geschehen war: Der reiche Herr hatte Hauke fortgejagt. Deshalb war er scheinbar so hilfsbereit. Wie von Sinnen stürzte ich mich mit erhobenen Fäusten auf ihn und trommelte so lange auf seinen Brustkorb ein, bis er meine Hände festhielt.
»Sie haben ihn gezwungen zu gehen! Das haben Sie sich fein ausgedacht! Sie erschleichen sich mein Vertrauen und entledigen sich geschickt Ihres Nebenbuhlers!«, brüllte ich. Ich sah, wie ihm augenblicklich jegliche Farbe aus dem Gesicht wich. Er ließ meine Handgelenke so hastig los, als hätte er sich daran verbrannt.
»Glauben Sie doch, was Sie wollen«, stieß er gekränkt hervor und wandte sich ab. Wenn diese Entrüstung gespielt war, dann musste er ein wahrer Meister der Verstellung sein!
»Warten Sie, Herr Hensen, so warten Sie!«, rief ich ihm hinterher, aber ich bekam keine Antwort.
Ich blieb ratlos mitten im Zimmer stehen. Plötzlich blieb mein Blick an einem Brief hängen. Er lag offen auf dem Tisch. Ich sagte mir noch, dass es mich nichts anging, doch da hatte ich bereits nach dem gefalteten Bogen gegriffen.
Ich erstarrte. In einer gestochen scharfen Schrift stand dort mein Name. Fräulein Hanne Asmussen. Mit zittrigen Fingern faltete ich den Bogen auseinander und las die Nachricht, die Hauke Jessen mir hinterlassen hatte.
Liebes Fräulein Asmussen,
es tut mir leid, wenn ich Sie enttäuschen muss, aber dringende Geschäfte machen meine Anwesenheit in Saint Croix erforderlich. Ich muss allein reisen, gehe heute auf ein Schiff nach Westindien und werde auch nicht zurückkommen, denn ich habe Ihnen etwas Wichtiges verschwiegen. Ich habe eine Verlobte in Christiansted, und ich will kein Schuft sein. Sie werden mit Sicherheit glücklicher mit einem wohlhabenden Mann wie Pit Hensen.
Ihr ergebener Hauke Jessen
Ich musste diese Zeilen mehrfach lesen, um zu begreifen, dass mich Hauke Jessen an der Nase herumgeführt hatte, doch dann stutzte ich. Er pries mir Pit Hensen ja förmlich als Ehemann an! Das konnte nur eines bedeuten: Mein Verdacht, dass Pit Hensen hinter der überstürzten Flucht Haukes steckte, war nicht so
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