Das Haus der Tänzerin
Augen und hob das Gesicht zum klaren Himmel, wo Möwen ihre Kreise zogen. Ein kalter Wind blies vom Meer her, und Bamaluz Beach lag verlassen da. Als Kind war das immer ihr Lieblingsstrand gewesen – die meisten Besucher von St. Ives wussten gar nicht, dass es ihn gab, und folgten stattdessen den Massen nach Porthmeor oder Porthminster. Liberty war oft mit ihr hierhergekommen. Um diese Zeit des Jahres, wenn die ganzen Touris – wie die Einheimischen sagten – Cornwall verlassen hatten, hatte Emma den Strand für sich allein. Es war Flut, und die Wellen krachten unter ihr, während sie mit knirschenden Schritten am Ufer entlangging. Der Strand lag nur einen kurzen Fußmarsch von der alten Fischerhütte entfernt, die Charles und Freya vor Jahrzehnten gekauft hatten, bevor St. Ives in Mode gekommen war. Dieser Strand war der Spielplatz ihrer Mutter gewesen, als sie noch ein Kind war, und für Emma stand er für Sommerferien, Surfen, von der Sonne geküsste Haut. Hier fühlte sie sich sicher.
An dem Morgen, an dem sie Freyas Haus verlassen hatte, war sie, ohne anzuhalten, nach Cornwall durchgefahren. Sie hatte lediglich ihren Koffer und das Kästchen mit Libertys Briefen aus dem Studio geholt. Als sie in St. Ives ankam, ging bereits die Sonne unter. Sie parkte vor der Hütte, lauschte dem Knacken des heißen Motors. Die Straße war menschenleer, aus dem Pub drang Licht auf den Gehsteig, die gedämpften Geräusche eines Fernsehers waren von der anderen Straßenseite zu hören. Emma blickte auf. In einem Fenster sah sie eine Familie, die sich zum Abendessen setzte. Der Mann küsste seine Frau auf die Wange, als er den Platz am Kopf des Tisches einnahm. Emma hatte sich noch nie so allein gefühlt.
Sie hatte einen Kloß im Hals. Joe, dachte sie. Ihr gingen immer wieder dieselben Bilder durch den Kopf. Sie dachte an den Abend, als sie zum ersten Mal vermutet hatte, dass etwas nicht stimmte. Es war zur Jahrtausendwende, eine Silvesterparty in London. Wie bei einer Schachdemonstration hatten bekannte Gesichter auf der Party mechanisch ihre üblichen Rollen gespielt, und Emma war Emma, die gute alte zuverlässige Emma, so wie immer.
»Und, Em, läuten dieses Jahr die Hochzeitsglocken?«, hatte der Gastgeber gefragt, als sie ihm beim Aufräumen half. »Es wird langsam Zeit, dass Joe dich vor den Altar schleppt.«
»Wozu denn?«, hatte sie gefragt. »Wir sind glücklich, so wie wir sind.«
Sie waren glücklich. Sie hatte diese Frage so oft mit denselben Worten beantwortet, dass sie sich wie ein Roboter vorkam, aber diesmal klangen sie nicht echt. Das Glück schmeckte mittlerweile nach Staub, nach gepressten Blumen und vergilbten Fotos. An der Oberfläche hatte sich nichts geändert, aber irgendetwas hatte ihrer Liebe das Leben ausgesaugt.
Doch niemand hätte es ihnen angesehen. Zwei Dudelsackspieler führten um Mitternacht die Prozession hinunter zum Fluss an. Emma und Joe gingen zwar noch Arm in Arm los, aber als der Big Ben schlug, stand Emma plötzlich allein da und stützte eine Freundin, die sich in ein Blumenbeet übergab, und verpasste das Feuerwerk. Wenn sie nicht so langsam gegangen wäre, weil sie das Mädchen praktisch zurück zur Party tragen musste, hätte sie Joe vielleicht gar nicht gesehen. Er hatte sie nicht bemerkt, das wusste sie. Inmitten der Menschen um sie herum, die alle im Aufbruch begriffen waren, sah sie ihn in einem Eingang auf halber Höhe der Lord North Street stehen. Er telefonierte mit seinem Handy. Sie musste gar nicht erst hören, was er sagte, um zu wissen, dass dies der Anfang vom Ende war. Allein sein Anblick genügte. Er redete so, wie er früher immer mit ihr geredet hatte, als sie noch verliebt waren.
Als er später auf der Party zu ihr stieß, tat Emma so, als sei nichts passiert. Er behauptete, sie gesucht zu haben. Bei Sonnenaufgang gingen sie zu Fuß zu ihrem halb fertigen Haus in der Old Church Street zurück und liebten sich. Joe verkündete einen neuen Anfang, während Emma einen letzten Abschied spürte. Es dauerte noch etwas länger als ein Jahr. Joe war sehr vorsichtig. Und dann kam Libertys Krebs wieder. Beim ersten Mal war Emma zu jung gewesen, um zu wissen, was passierte, aber diesmal gab es keine Zweifel, dass das Ende bevorstand. Zwischen der Arbeit und der Pflege ihrer Mutter spürte Emma, wie sie von ihm weggezogen wurde, gerade als sie ihn am meisten brauchte. Nachts wachte sie in einem Hotel in Hongkong oder Sydney auf, zwischen verhedderten Laken, schwer atmend,
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