Das Haus der Tänzerin
weil sie etwas geträumt hatte, das ihr eine furchtbare Angst einjagte. Immer fiel sie eine Wendeltreppe hinunter, die ins Unendliche weiterführte, sie fiel hinunter, wurde immer schneller, rief Joe um Hilfe, aber er war nie da.
Nach zehn gemeinsamen Jahren gab es kein Hochzeitskleid zu beweinen, keine Kinder, noch nicht einmal Katzen, für die man sich das Sorgerecht erstreiten wollte. Sie wartete auf einen greifbaren Beweis, denn sie wusste, ohne einen Beweis würde er es einfach abstreiten. In ihrem Innersten hoffte sie, unrecht zu haben. Schließlich wurde er unachtsam und ließ eines Tages den Schlüssel zu seinem Aktenschrank liegen, als er Squash spielen ging. Da war es: eine ordentliche Papierspur von Restaurant- und Hotelrechnungen, von einer bekannten Nummer, die zu oft auf seinen Telefonrechnungen auftauchte. Emma sagte sich, dass es womöglich eine ganz unschuldige Erklärung geben könnte – Joe war oft berufsbedingt unterwegs, und natürlich musste er sie auch dienstlich anrufen. Dann sah sie Delilahs SMS.
Emma zog aus, ging zu Liberty. Ihre Mutter war der Mensch, dem sie am liebsten ihr Herz ausschütten wollte, aber das ging nicht. Wie konnte sie die Liebe und das Vertrauen zerstören, das ihre Mutter für Joe hegte, jetzt, wo sie dem Ende so nahe war? Emma erzählte ihr, dass Joe viel Verständnis dafür habe, dass sie nun ständig bei ihrer Mutter sein wolle, um mit ihr die Zeit, die ihr noch blieb, zu verbringen. Und das stimmte auch, dachte Emma, als sie über den Strand ging. In den letzten Wochen, als Liberty immer schwächer wurde, hielten sie die Fassade aufrecht. Delilah kam ein letztes Mal, um sich zu verabschieden. Sie konnte Emma nicht ansehen, erst in dem Moment, in dem sie ging – als sie ihr einen einzigen, triumphierenden Blick zuwarf.
Nach der Beerdigung verließ Emma Joes Leben so, wie sie darin angekommen war, mit einem einzigen Koffer, und die Jahre zwischen ihnen zerrannen wie Sand zwischen den Fingern. Zuerst hatte er wie erwartet alles geleugnet, aber schließlich gab er unter ihrer ruhigen Wut nach. Sie war nicht rachsüchtig. Sie spielte mit der Vorstellung, Anzüge aufzuschlitzen oder ihm die zukünftige Freude an seinem Wein zu verderben, indem sie die Heizung aufdrehte. Aber sie wusste, am besten konnte sie sich an ihm rächen, wenn er in ihr Leben zurückkehren müsste und alles vollständig vorfinden würde – bis auf sie. Joe hasste Veränderungen. Er liebte ihr Leben. Er erzählte ihr, dass Delilah ihn in einer Zeit der Schwäche erwischt hätte – sie könnten wieder von vorn anfangen. Er sagte, ihr neues Zuhause sei ein Zeugnis ihrer Jahre voller Liebe. Der Aschenbecher auf seinem Schreibtisch stehe dort, weil sie ihn gemeinsam in einem kleinen Laden in Hamburg ausgesucht hätten; über jedes Bild an der Wand sei diskutiert worden, jedes sei gemeinsam bei ihren Sonntagsausflügen zu Christie’s in South Kensington ausgesucht worden.
Emma dachte an den Abend, an dem er ins Studio kam, nachdem Libertys Testament verlesen worden war, und wie sie ihre Trauer in dem vertrauten Trost ihrer Umarmung verarbeitet hatten. Er wolle nicht, dass sie gehe, das hatte er ihr in ihrem letzten Gespräch gesagt, voller Reue und mit tränenerstickter Stimme. Es sei verrückt, er liebe sie, das sei nur ein Ausrutscher gewesen. Wenn er von seiner Dienstreise zurückkäme, würden sie von vorn anfangen. Sie dürfe nichts Übereiltes tun. Er würde mit Delilah Schluss machen. Sie erinnerte sich, wie ihr das Herz stehen geblieben war.
»Soll das heißen, ihr seid noch zusammen?« Emma hatte ihn weggedrückt, hatte das Laken schützend um sich geschlungen. »Raus hier! Wie konntest du hierherkommen …?«
»Ich liebe dich, Emma«, sagte er.
»Raus hier!« Sie hatte ihm seine Kleider nachgeworfen und die Tür hinter ihm verriegelt, während er im Gang stand und sie anflehte, nach Hause zu kommen.
Als Joe aus New York zurückkehrte, fand er das Haus so sauber und makellos vor wie ein ausgeblasenes Ei. Er gratulierte sich, dachte, Emma sei zur Vernunft gekommen. Er ignorierte Delilahs verzweifelte Nachrichten und bereitete ein Abendessen für Emma vor – Austern und gebratenes Huhn, ihrer beider Lieblingsessen – und öffnete eine Flasche Sancerre. Als es dunkler wurde, wartete Joe bei Kerzenlicht auf sie. Er rief sie auf dem Handy an, es war ausgeschaltet. Die Austern wurden fade, das Huhn war trocken und verbrannt. Schließlich durchsuchte er das Haus und stellte fest, dass nur
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