Das Haus der verschwundenen Jahre
werden und deine Freundin bleiben würde«, sagte sie. »Aber gleichzeitig möchte ich auch nach Hause. Und in dem Jahr, das mich auf der anderen Mauerseite erwartet, bist du wahrscheinlich noch nicht einmal geboren.«
Harvey nickte traurig und schaute zu den Ruinen zurück.
»Schätzungsweise müssen wir Hood wenigstens für etwas dankbar sein.«
»Wofür denn?«
»Wir waren zusammen Kinder«, sagte er und ergriff ihre Hand, »wenigstens für kurze Zeit.«
Lulu versuchte zu lächeln, aber ihre Augen standen voller Tränen.
»Laß uns wenigstens so weit wie möglich gemeinsam gehen«, schlug Harvey vor.
»Ja, gerne«, antwortete Lulu. Hand in Hand gingen sie auf die Mauer zu, und ehe der Nebel sie ganz verschwinden ließ, drehten sie sich im letzten Moment um und schauten einander an. Und Harvey sagte:
»Nach Hause …«
Dann betraten sie die Mauer. Beim ersten Schritt spürte er noch Lulus Hand in seiner, aber schon beim zweiten war sie ganz durchsichtig geworden, und beim dritten Schritt – als er hinaus auf die Straße trat – waren ihre Hand und sie selbst ganz 226
verschwunden. Sie war wieder in jener Zeit, aus der sie vor vielen, vielen Jahren gekommen war.
Harvey schaute zum Himmel hinauf. Die Sonne war bereits untergegangen, aber noch immer streifte ein rosa Widerschein die Ränder der Wolken, die hoch über ihm dahinglitten. Der Wind blies in Böen, und obwohl er zuvor aus Angst und Erschöpfung geschwitzt hatte, lief es ihm nun kalt über Gesicht und Rücken.
Zähneklappernd machte er sich durch die immer dunkler werdenden Straßen auf den Heimweg. Was ihn dort erwartete, war ungewiß.
S eltsam, daß er nach so vielen Siegen den einfachen Heimweg nicht schaffen sollte. Aber so war es. Nachdem er eine ge-schlagene Stunde gelaufen war, verließen ihn Sinne und Kräfte.
Sie hatten ihn vor jedem erdenklichen Schrecken bewahrt, den Hood hervorgezaubert hatte, aber jetzt drehte sich ihm alles im Kopf, die Knie knickten ein, und er fiel erschöpft aufs Pflaster.
Glücklicherweise erbarmten sich seiner zwei Fußgänger und fragten ihn freundlich, wo er denn wohne. Etwas dunkel erinnerte er sich, daß es gefährlich sei, sein Leben vollkommen fremden Leuten anzuvertrauen. Aber es blieb ihm nichts anderes übrig. Und so überließ er sich ihnen und hoffte, daß es in der Welt, in die er zurückgekehrt war, noch immer ein wenig Herzenswärme gab.
A ls er aufwachte, war es dunkel. Da dachte er, der schwarze See hätte ihn doch noch geholt und er läge nun als Gefangener tief drunten am Grund. Und einen Augenblick lang setzte sein Herz aus.
Er fuhr hoch und schrie laut auf vor Angst. Doch als er das Fenster mit den leicht geöffneten Vorhängen am Fußende seines Bettes sah und den Regen leise aufs Fensterblech 227
trommeln hörte, war er unendlich erleichtert. Er war zu Hause.
Er schwang die Beine aus dem Bett und stand auf. Sein ganzer Körper schmerzte, als hätte er zehn Runden mit einem Schwergewichtsboxer hinter sich. Trotzdem besaß er noch genug Energie, um zur Tür zu humpeln und sie aufzumachen.
Vom Fuß der Treppe drangen zwei vertraute Stimmen zu ihm hoch.
»Ich bin bloß froh, daß er wieder zu Hause ist«, hörte er seine Mutter sagen.
»Ich auch«, sagte sein Vater. »Aber er schuldet uns noch einige Erklärungen.«
»Die bekommen wir schon noch«, fuhr seine Mutter fort,
»aber wir sollten ihn nicht allzu sehr bedrängen.«
Harvey hielt sich am Treppengeländer fest und ging langsam die Stufen hinunter. Seine Eltern unterhielten sich weiter.
»Wir müssen schnell die Wahrheit herausbekommen«, sagte sein Vater. »Könnte ja sein, daß er in irgendein Verbrechen verwickelt war, oder?«
»Aber doch nicht Harvey.«
»Jawohl, Harvey. Du hast doch seinen Zustand bemerkt.
Überall Blut und Dreck. Eines ist sicher, nur Rosen gepflückt hat er nicht da draußen.«
Unten an der Treppe blieb Harvey stehen. Er hatte ein wenig Angst, sich der Wahrheit zu stellen. Hatte sich etwas verändert, oder waren die beiden Menschen, die er nicht sehen konnte, noch immer alt und gebrechlich?
Er ging zur Tür und stieß sie auf. Seine Eltern standen mit dem Rücken zu ihm am Fenster und starrten in den Regen hinaus.
»Hallo«, sagte er.
Beide drehten sich gleichzeitig um, und Harvey stieß einen Freudenschrei aus, als er sah, daß er all die kummervollen und schrecklichen Erlebnisse in jenem Haus nicht umsonst ertragen hatte. Hier war seine Belohnung: Seine Mutter und sein Vater 228
sahen
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