Das Haus in den Wolken
Sara, die Alice Finborough liebte, hatte stets ein Lächeln und eine heitere Bemerkung für sie. Einmal aber, nachdem sie fast die ganze Nacht geweint hatte, brachte sie nicht das kleinste Lächeln zustande, sodass Alice sich nach dem Tee mit Caroline und Gil veranlasst fühlte, ihrer Enkelin eine kleine Spazierfahrt vorzuschlagen. Sara war, als hätte sich eine schwarze Wolke gelichtet, als sie in dem Dogcart auf die LandstraÃe hinausfuhren. Vernon Court, das einstige Märchenschloss, war ihr zum Gefängnis geworden.
Sie fuhren ins Dorf, wo Alice bei einem Bauern Eier und Ãpfel kaufte. Als sie wieder auf den Wagen kletterte und die Zügel ergriff, fragte sie: »Was bedrückt dich, Sara?«
»Nichts«, antwortete Sara. »Mir geht es gut.«
»Unsinn. Du bist kreuzunglücklich. Wie geht es dem Kleinen?«
»Immer gleich.«
»David hat viel Bauchweh, und solche Kinder können eine ziemliche Plage sein. Aber das gibt sich, glaub mir.« Alice zog an den Zügeln, und das Pferd setzte sich in Bewegung. »Was ist mit Gil? Ist er dir gegenüber unfreundlich?«
»Nein, überhaupt nicht. Die meiste Zeit scheint er gar nicht zu merken, dass ich da bin.«
»Aha.« Alice Finborough sah beunruhigt aus. »Das kann manchmal schlimmer sein als direkte Grausamkeit. Dein GroÃvater war ein bisschen so. Er hatte seine Leidenschaften, und es ï¬el ihm nicht ein, sie mit mir zu teilen.«
Sara sah sie an. »Wie hast du das ausgehalten?«
»Ich hatte meine Pferde und mein Kind. Und später, als Richard gröÃer wurde und mich weniger brauchte, hatte ich meine Freunde.«
»Freunde?«
»Liebhaber, Kind. Ich will sagen, dass ich mir Liebhaber genommen habe.«
Zum ersten Mal seit Monaten, wie ihr schien, musste Sara lachen. »GroÃmutter, ich hatte ja keine Ahnung.«
»Man muss versuchen, irgendwie zu überleben, wenn man mitten in der Wildnis mit einem Mann zusammenlebt, der manchmal wunderbar war, zu anderen Zeiten aber auch ein schrecklicher Tyrann sein konnte«, erklärte Alice sachlich. »Und das war meine Art, es zu versuchen. Die Pferde allein waren mir nicht genug.« Sie tätschelte Sara die Hand. »Du erinnerst mich an mich selbst, als ich in deinem Alter war, Schatz. Wir sind uns ähnlich. Wir brauchen jemanden, den wir lieben können. Wir fühlen uns nicht ganz, wenn wir nicht lieben, auch wenn einen die Liebe nicht immer glücklich macht.«
Sara war wieder elend zumute. »Ich müsste David lieben.«
»Viele Frauen sind hingerissen von kleinen Kindern. Ich fand Richard weit interessanter, als er älter wurde. Als kleines Kind neigte er zu Wutanfällen, das war ausgesprochen anstrengend. Ich bin überzeugt, du wirst David lieben, wenn er heranwächst.«
»Hattest du viele Liebhaber, GroÃmutter?«
»Ein halbes Dutzend vielleicht«, antwortete Alice. »An die genaue Zahl erinnere ich mich nicht mehr. Eigentlich traurig, dass diese Dinge, die einem einmal so ungeheuer wichtig erschienen, ziemlich an Kontur verlieren, wenn man älter wird.«
»Gab es einen, den du mehr geliebt hast als die anderen?«
Alice antwortete mit einem Lächeln geheimer Erinnerungen. »Ich glaube bis heute, dass mein geliebter Tom meine groÃe Liebe war. Mit ihm war alles ein Abenteuer. Sogar der prosaischste Alltag war wunderbar mit ihm. Er war mein letzter Liebhaber. Seit er tot ist, lebe ich allein.«
»Was war mit ihm, GroÃmutter?«
»Er ist im Krieg gefallen.« Ein Schatten ï¬og über Alice Finboroughs Gesicht. Dann trieb sie die Pferde zum Trab an und sagte mit Nachdruck: »Ich war stets sehr diskret, Sara. Man muss immer darauf achten, einen Skandal zu vermeiden.«
Weihnachten brachte für Sara die Wende. David war mittlerweile fast ein halbes Jahr alt. Er schlief ruhiger und weinte nicht mehr so viel. Richard und Isabel verbrachten Weihnachten wie gewohnt in Raheen und kamen nach Vernon Court zu Besuch, um ihren kleinen Enkel zu bewundern. Die Nebel der Depression, die Saras Leben verdunkelten, lichteten sich ein wenig.
Als ihre Eltern im neuen Jahr wieder nach England abreisten, musste sie sich Rechenschaft über sich und ihr Leben ablegen, ob sie wollte oder nicht. Sie wusste, dass in Vernon Court kein Platz für sie war. Caroline und Gil duldeten sie; sie brauchten sie nicht. Die Liebe zu ihrem Sohn hatte sich nicht, wie Sara
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