Das Haus in der Löwengasse (German Edition)
gehen lassen, Köbes? Bist du von allen guten Geistern verlassen?»
Jakob zog den Kopf ein wenig ein. «Sie hat darauf bestanden, gnädiger Herr. Ich konnte sie doch nicht zwingen, hierzubleiben. Sie hat Ihnen eine Nachricht hinterlassen.»
«Wo?»
«In Ihrem Arbeitszimmer.»
Ohne ein weiteres Wort ging Julius mit großen Schritten in sein Büro und griff nach dem gefalteten Blatt Papier, das in der Mitte des Schreibtischs lag. Während er den kurzen Brief las, ließ er sich auf seinen Stuhl sinken.
Er musste die Worte zweimal lesen, bis er deren Bedeutung erfasste. Für einen Moment schloss er die Augen. Er ballte die Hand, die den Brief hielt, zur Faust. Mit einem frustrierten Laut warf er ihn von sich. Jakob gab den Kindern ein Zeichen, sich zurückzuziehen, und trat vorsichtig in den Raum.
«Herr Reuther, es tut …»
«Verfluchtes Weib!» Mit einer zornigen Bewegung fegte Julius die Papiere von seinem Schreibtisch.
Jakob blieb vorsichtshalber in einiger Entfernung stehen.
«Dieses sture Frauenzimmer! Ich glaube es einfach nicht!» Julius sprang auf und lief erregt im Zimmer auf und ab. Unvermittelt fuhr er zu Jakob herum. «Was hat sie den Kindern gesagt?»
«Sie hat gar nichts gesagt», piepste Ricarda. Sie hatte den Wutausbruch ihres Vaters mit großen Augen beobachtet und trat nun mit verzweifeltem Mut näher. «Als wir aus der Schule gekommen sind, war sie schon fort. Ohne sich zu verabschieden. Sind wir schuld daran, dass sie weg ist?»
Julius starrte seine Tochter irritiert an. «Ihr? Weshalb solltet ihr …? Natürlich ist es nicht eure Schuld, dass sie gegangen ist, Ricarda. Wie kommst du bloß darauf?»
Ricarda verschränkte die Arme vor dem Körper. «Dann ist es deine Schuld. Oder die von Fräulein Frieda.»
«Aber Kind, so redet man doch nicht …», mischte Jakob sich erschrocken ein, doch Ricarda hörte gar nicht hin.
«Wir wollen, dass Fräulein Schmitz zurückkommt!», forderte das Mädchen wütend. «Sie soll bei uns bleiben!»
Julius fuhr sich erneut durch die Haare und setzte sich wieder. «Glaub mir, Ricarda, das will ich auch.»
«Dann hol sie zurück!»
«Das kann ich nicht.»
«Warum nicht?»
Resignierend griff Julius nach dem Brief, der bei seinem Wutausbruch neben den Stuhl gefallen war. Sorgsam strich er das Papier glatt. «Weil ich ihr ein Versprechen gegeben habe.»
Ricarda ging auf ihn zu. «Was denn für ein Versprechen?»
Julius seufzte. «Ich habe ihr versprochen, ihre Wünsche stets zu respektieren und nichts gegen ihren Willen zu tun.» Er hob den Brief leicht an. «Das habe ich nun davon. Sie will nicht, dass ich Kontakt zu ihr aufnehme. Und …»
«Was denn noch?» Ricardas Stimme klang nun verzagt und ein wenig ängstlich.
Ratlos blickte Julius seine Tochter an. «Sie will, dass ich vernünftig bin. Um euretwillen.»
***
Annette Reuther war kein streitsüchtiger Mensch, doch wenn ihr Zorn einmal geweckt war, kam man ihr besser nicht in den Weg. Nachdem sie Pauline höchstpersönlich zum Hafen begleitet und dafür gesorgt hatte, dass die junge Frau sicher auf dem Weg nach Koblenz war, ging sie zu einem alten Freund ihres verstorbenen Gatten, um einige Erkundigungen einzuziehen. Danach begab sie sich unverzüglich zum Haus in der Löwengasse. Dort angekommen, schickte sie das Mädchen, das sie begleitet hatte, nach Hause und betätigte kurz den Türklopfer.
Die wenigen Augenblicke, die es dauerte, bis Jakob die Tür öffnete, reichten nicht aus, ihren Zorn auch nur im Geringsten zu zügeln. Sie drückte dem Diener ihren Mantel in den Arm. «Wo ist er?»
Jakob verbeugte sich höflich. «Der gnädige Herr ist in seinem Arbeitszimmer. Soll ich Sie melden?»
Annette warf ihm einen scharfen Blick zu. «Keine Sorge, das erledige ich schon selbst.»
«Großmama!» Peter und Ricarda kamen die Treppe herabgelaufen. «Wie geht es dir? Hast du schon gehört …»
«Nicht jetzt!» Gebieterisch hob Annette die Hände. «Lasst mich erst mit eurem Vater reden.»
Die beiden sahen einander etwas erschrocken an und ließen sofort von ihr ab. Annette ging zum Arbeitszimmer und trat, ohne anzuklopfen, ein. «Guten Tag, Julius», sagte sie kühl.
Julius saß nach wie vor an seinem Schreibtisch, den Kopf in die Hände gestützt. Der Anblick tat Annette in der Seele weh, doch für Mitleid hatte sie jetzt keine Zeit. «Was ist, willst du deine Mutter nicht begrüßen?», herrschte sie ihn an.
Julius hob den Kopf. «Guten Tag, Mutter. Du kommst zu einem denkbar
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