Das Haus in der Löwengasse (German Edition)
schlechten Zeitpunkt. Ich bin nicht in der Stimmung für Besuch.»
«Es interessiert mich nicht, wozu du in der Stimmung bist», antwortete sie ungerührt. «Ich würde vielmehr gerne wissen, weshalb Pauline Schmitz in aller Frühe bei mir vor der Tür stand und bis zur Abfahrt ihres Schiffs um Asyl bat.»
Julius sprang auf und kam um den Tisch herum. «Sie war bei dir? Was hat sie gesagt?»
«Nicht viel. Nur dass du Frieda nicht heiraten wirst, solange sie hier im Hause lebt.» Sie hielt kurz inne. «Also hast du in dieser Sache noch immer nicht für klare Fronten gesorgt.»
Julius wandte sich ab und ging ein paar Mal auf und ab. «Ich … Wir haben gestern …» Er blieb stehen. «Sie hat mir, verdammt noch mal, keine Gelegenheit gegeben, für klare Fronten zu sorgen, wie du es ausdrückst.»
«Hat sie nicht?»
«Sie ist fort, oder nicht?»
Annette schüttelte leicht den Kopf. «Julius, was ist hier vorgefallen? Sie reist doch nicht ohne Grund so plötzlich ab.»
Mit einer zornigen Geste ließ sich Julius auf den Rand seines Schreibtischs sinken. «Es ist meine Schuld. Ich hätte zuerst mit ihr reden sollen, bevor wir …»
«Bevor ihr was?» Argwöhnisch kniff Annette Reuther die Augen zusammen. «Julius?»
Er trat an eines der Fenster. «Ich weiß, dass ich es falsch angefangen habe, aber … Himmel, ich bin auch nur ein Mensch! Wie hätte ich denn ahnen sollen, dass sie mir gleich auf und davon rennt?»
Annette betrachtete seinen Rücken, die hochgezogenen Schultern. Nun regte sich doch ihr Mitleid. Vorsichtig trat sie neben ihren Sohn und legte ihm eine Hand auf den Arm. «Du kennst sie besser als ich, Julius. Aber selbst ich weiß, dass diese Frau nicht dumm ist und den Lauf der Welt recht genau einzuschätzen vermag. Die Argumente, die sie mir gegenüber für ihr Fortgehen anführte, sind allesamt schlüssig und vernünftig. Das heißt nicht, dass ich ihr in allen Punkten zustimme, aber …»
«Ihre ach so vernünftigen Gründe interessieren mich nicht, Mutter!», erwiderte Julius aufgebracht.
«Und weshalb bist du dann nicht längst auf dem Weg nach Bad Bertrich, um sie zurückzuholen?»
«Weil sie mich mit meinen eigenen Waffen geschlagen hat», schnaubte Julius frustriert. Er ging zum Schreibtisch und gab den Brief seiner Mutter. «Lies selbst.»
Annette überflog die wenigen Zeilen und seufzte. «Ein kluger Schachzug ihrerseits. Wirst du ihre Wünsche respektieren?»
Julius ging erneut zum Fenster und stützte sich auf dem Sims ab. «Ich habe ihr mein Wort gegeben.»
Annette runzelte die Stirn. «Aber?»
«Wie soll ich es halten?» Er lehnte für einen Moment den Kopf gegen die kühle Fensterscheibe. «Ich … Wir haben …» Er stockte verlegen. «Es sind gewisse Ereignisse eingetreten, die es mir zur Pflicht machen müssten, Pauline zur Frau zu nehmen.» Er schlug mit der Faust auf den Fenstersims. «Sie ist so unerträglich stur! Was, wenn sie ein Kind von mir erwartet? Soll ich sie einfach vergessen? Sie ist verrückt, wenn sie denkt, ich würde meine Pflicht ihr gegenüber nicht kennen.»
Obwohl sie bereits einen Verdacht gehabt hatte, atmete Annette tief durch, bevor sie antwortete. «Julius, hier geht es nicht um deine Pflicht ihr gegenüber. Ich glaube nicht, dass sie in dieser Hinsicht Erwartungen an dich stellt.»
«Das weiß ich!», fuhr Julius sie an. «Aber sie müsste es tun, wenn sie vernünftig wäre.»
Annette legte ihm erneut eine Hand auf den Arm. «Das ist sie – aus ihrer Sicht. Du bist ein Mann von Ehre. Du musst dein Wort halten und ihre Wünsche respektieren. Überleg dir also genau, was du jetzt tust.»
Er wandte sich ihr mit grimmiger Miene zu. «Ich werde dabei wahrscheinlich alles verlieren, Mutter, ganz gleich, wie ich mich entscheide.»
Sie nickte ernst. «Das Leben spielt nicht immer so, wie man es gern hätte, Julius.»
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Kapitel 26
Pauline erreichte Bad Bertrich erst am späten Vormittag des folgenden Tages. Da es keine direkte Postverbindung gab, hatte sie nach Verlassen des Rheinschiffes mehrmals die Kutsche wechseln müssen. Als sie nun am Fenster des winzigen Pensionszimmers stand und auf die trotz des kalten Wetters belebte Straße blickte, spürte sie eine schmerzhafte Leere in sich. Die Pensionswirtin, Regine Breitenbach, eine herzliche Frau mittleren Alters, hatte sie sofort erkannt und sich gefreut, sie wiederzusehen. Falls sie sich darüber wunderte, dass Pauline ganz allein angereist war, zeigte sie es
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