Das Haus in der Löwengasse (German Edition)
Kommode, in der die Noten aufgehoben wurden.
Christine winkte die zögerlich in der Tür stehende Pauline energisch näher. «Nun komm schon!», rief sie. «Setz dich und spiel mir etwas vor.»
Da Pauline den Anweisungen des Mädchens Folge leisten musste, setzte sie sich an den Flügel. Bewundernd strich sie über das glatte dunkle Holz. Auf einem so wertvollen Instrument hatte sie noch nie gespielt.
«Spiel mir …», Christine überlegte kurz. «Spiel Der Mond ist aufgegangen , das ist recht einfach. Das kennst du doch wohl?»
Pauline schluckte. «Natürlich kenne ich das Lied.» Ihre Finger zitterten leicht. Sie fürchtete sich entsetzlich, dass die gnädige Frau sie entdecken würde. Doch Christines Entschlossenheit hatte sie nichts entgegenzusetzen. Also begann sie zu spielen.
Zunächst hob Christine nur überrascht die Brauen, als ihr klar wurde, dass Pauline das Instrument tatsächlich zu beherrschen schien. Doch als sie zu singen begann, verschlug es dem Mädchen die Sprache.
Pauline besaß eine von Natur aus liebliche und durch viel Übung geschulte Singstimme, mit der sie in Bad Bertrich so manche Abendgesellschaft entzückt hatte. Erst als sie mit dem Singen begonnen hatte, merkte sie, wie sehr sie es vermisst hatte. Ohne es zu merken, legte sie von Vers zu Vers mehr Kraft und Gefühl in die Melodie. Als das Lied zu Ende war, biss sie sich unsicher auf die Lippen.
Christine starrte sie an. «Das ist ja unglaublich!», rief sie. «Du kannst wirklich spielen und singen! Das ist … du bist ja viel besser als ich! Wesentlich besser sogar als irgendjemand, den ich kenne! Los, sing noch etwas! Etwas Schwierigeres. Kennst du französische Lieder? Oder englische?»
Pauline wehrte erschrocken ab. «Ich habe Ihnen doch jetzt bewiesen, dass ich es kann, Fräulein Christine. Es schickt sich wirklich nicht, dass ich noch länger hier am Flügel sitze. Ich muss noch …»
«Kennst du Come Again, Sweet Love Doth Now Invite ?» Christine blickte sie erwartungsvoll an, ging zur Kommode und suchte mit fliegenden Fingern die Noten dieses Musikstücks heraus. «Hier!», sagte sie und stellte die Notenblätter in die Halterung des Notenpultes. «Wenn du das spielen und singen kannst, sage ich Mama, dass sie dich Hedwig und Änne unterrichten lassen soll.»
«Aber …» Pauline wurde es ganz heiß. Sie schluckte einmal, zweimal. Auch wenn sie nicht glaubte, dass Christine es wirklich ernst meinte oder dass ihre Mutter darauf eingehen würde, drängte etwas in ihr, ihre Hände erneut auf die Tasten zu legen. Sie spielte und begann zu singen:
Come again,
sweet love doth now invite,
thy graces that refrain
to do me due delight
To see, to hear,
to touch, to kiss,
to die with thee again
in sweetest sympathy …
***
Julius Reuther blickte auf seine Taschenuhr und seufzte innerlich. Ihm graute es ein wenig vor dem Abend. Doch Marius Stein, der Gastgeber der heutigen Soiree, war eng mit dem Bankier Berthold Schnitzler befreundet. Man munkelte sogar, dass die beiden Familien in Kürze verwandtschaftliche Bande miteinander zu knüpfen gedachten. Um sich einen besseren Eindruck von Schnitzler zu verschaffen, hielt Julius es für angebracht, sich etwas näher mit Stein zu befassen. Bisher erschien ihm der Inhaber des Bankhauses Schnitzler ein seriöser und kluger Geschäftsmann zu sein, doch Julius gab sich nicht gern mit dem ersten Eindruck zufrieden.
Als er das Haus der Steins am Laurenzplatz erreichte, runzelte er überrascht die Stirn. Vor dem Haus stand eine ganze Schar von Dienstboten. Wie gebannt lauschten sie dem Gesang, der aus einem der Fenster drang. In einigen Schritten Entfernung blieb Julius stehen. Die Stimme, die gerade ein bekanntes englisches Lied vortrug, hatte er noch nie gehört. Zumindest war es nicht die von Fräulein Christine, deren Gesang er zu anderer Gelegenheit bereits hatte lauschen dürfen. Vielleicht ihre jüngere Schwester Hedwig? Falls dies der Fall war, durfte Ariane Stein sich zu einer Virtuosin in Spiel und Gesang gratulieren. Doch konnte ein gerade vierzehn- oder fünfzehnjähriges Mädchen bereits eine derart kräftige, wohlausgebildete Stimme besitzen?
Julius ertappte sich dabei, wie er den Vortrag genoss. Kaum war das Lied zu Ende, schallten verärgerte Stimmen nach draußen. Eine davon gehörte eindeutig der Hausherrin. Sie schalt die Sängerin lautstark eine impertinente Person. Eine zweite, leisere Stimme versuchte zu vermitteln.
Die Dienstboten unter dem Fenster
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