Das Haus in der Löwengasse (German Edition)
und Rotwein auf der Zunge zu verspüren.
Als sie die Kälte kaum noch aushielt, schlich sie zurück ins Haus, verschloss die Hintertür und kletterte zurück auf ihren Hängeboden. Sie zog ihre Decke bis zur Nasenspitze und starrte an die Decke. Abrupt drehte sie sich auf die Seite, rollte sich zusammen, umfing ihre Knie mit den Armen und weinte.
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Kapitel 6
«Pauline, ich will, dass du für meine kleine Änne eine schöne Feier vorbereitest. Ihr zehnter Geburtstag am dreiundzwanzigsten November soll etwas ganz Besonderes werden.» Ariane Stein saß an ihrem Toilettentisch und puderte sich die Wangen, während Pauline ihr das Haar frisierte. «Elfie wird nachher mit mir zum Einkaufen gehen und mir helfen, die Geschenke auszusuchen. Du wirst dich um die Dekorationen, das Essen und die Musik kümmern. Es sollen achtundzwanzig Personen eingeladen werden, davon sieben junge Mädchen in Ännes Alter sowie ein Junge von sieben Jahren, der Sohn des Textilfabrikanten Reuther. Ich bin nicht ganz glücklich, dass er auch kommen wird, aber seine Schwester geht mit Änne in dieselbe Klasse. Tja, und da Reuther obendrein ein guter Kunde meines Mannes ist und auch mit dem Bankhaus Schnitzler Geschäfte macht, kann ich ihn und seine Kinder auf keinen Fall übergehen.» Frau Stein seufzte. «Ich hoffe, die beiden wissen sich zu benehmen. Man munkelt, diese Kinder wären recht wild und unerzogen. Änne erzählt mir hin und wieder Sachen … Obgleich das Mädchen, Ricarda, wohl noch ganz annehmbar sein soll. Aber der Junge! Nichts als Flausen im Kopf! Aber so sind kleine Jungs wohl. Vor allem, wenn sie nicht in strenger Zucht gehalten werden. Ich möchte nur nicht, dass er unserem Hans Flausen in den Kopf setzt.» Sie blickte sich um. «Bist du fertig, Pauline?»
«Ja, gnädige Frau. Warum glauben Sie, dass die Kinder von Herrn Reuther unerzogen sind? Er scheint doch ein sehr eleganter Herr zu sein.»
Ariane Stein lachte abfällig. «Elegant! O ja, äußerlich ist er das gewiss. Aber er ist ein Emporkömmling! Sein Großvater war ein ganz einfacher Weber, und sein Vater hat die Fabrik, die Julius Reuther heute leitet, praktisch aus dem Nichts erschaffen.»
«Das ist doch bewundernswert», wagte Pauline einzuwenden.
Ariane winkte ab. «So kann auch nur jemand sprechen, der selbst nicht der höheren Gesellschaft angehört. Ungeschliffen, das ist Julius Reuther. In seinen Manieren, seiner Sprache, seinem ganzen Auftreten. O ja, gewiss, er kleidet sich nach der neuesten Mode und scheint ein guter Geschäftsmann zu sein, sonst hätte er es nicht so weit gebracht. Seine Herkunft kann dennoch niemand verbergen, Pauline. Hast du nicht neulich auf unserer Soiree gesehen, wie sich seine Mutter benommen hat? So aufdringlich und neugierig. Eine impertinente Person. Aber man darf sie nicht ignorieren. Reuther hat in der Stadt zu großen Einfluss. Einige seiner besten Freunde sitzen im Stadtrat. Dabei müsste ihn eigentlich die gute Gesellschaft schneiden, nach dem Skandal vor zwei Jahren. Oder ist es schon drei Jahre her? Ich weiß es nicht mehr genau.»
«Was für ein Skandal?» Im Grunde interessierte Pauline dieser Julius Reuther nicht sonderlich. Obgleich er ihr neulich aus einer sehr verfänglichen Situation geholfen hatte, fand sie ihn unsympathisch. Vielleicht lag es daran, dass er sie an jenem Abend mit dem gleichen kühlen und abschätzigen Blick angesehen hatte wie vor einiger Zeit unten im Laden. Aber verübeln konnte sie es ihm eigentlich nicht. Wenn sie es nüchtern betrachtete, musste er sie für einen begriffsstutzigen Trampel halten. Obwohl seine Angelegenheiten sie nichts angingen, hatte das Wörtchen Skandal ein Fünkchen Neugier in ihr geweckt.
Ariane Stein stand von ihrem Stuhl auf und ging zu einer Kommode, um einen Schal daraus hervorzuholen. «Es war fürchterlich», erzählte sie, und es war ihr anzumerken, dass sie diese Geschichte nicht zum ersten Male erzählte. «Seine Frau, die Mutter seiner armen Kinder, hat sich umgebracht! Schrecklich, nicht wahr? Das arme Menschenkind! Und dabei stammte sie aus so gutem Hause! Wohlerzogen, gebildet, hübsch! Was wollte er mehr? Aber er hat sie unmöglich behandelt, ruppig und unfreundlich war er zu ihr, und am Ende hat sie sich derart gegrämt, dass sie den Freitod wählte.»
«Aber das ist ja entsetzlich!», rief Pauline und schlug eine Hand vor den Mund. So eine grausige Geschichte hatte sie nicht erwartet.
«Ja, nicht wahr?» Frau Stein nickte
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