Das Haus in der Löwengasse (German Edition)
sich verkühlt und schwer erkältet. Einen starken Husten hat er auch.»
«Das tut mir leid», sagte Pauline.
Julius schien ihre Worte gar nicht gehört zu haben, denn er fuhr fort: «Dieser neunmalkluge Pfaffenholz hat nichts Besseres zu tun, als Gläser voller Harn ins Licht zu halten und mir mit Laudanum zu kommen. Laudanum, sagte ich, kommt mir nicht ins Haus. Aber hört der Alte mir überhaupt zu? Bei nächster Gelegenheit sollte ich ihm die Flasche mit dem Teufelszeug in den Rachen stopfen!»
Das zornige Gesicht Reuthers stand in krassem Gegensatz zu seiner modisch-eleganten Erscheinung. Auch heute trug er einen dunklen Anzug, unter dem ein weißes, vorne leicht gerüschtes Hemd mit Vatermörderkragen hervorblitzte. Einzig seine kurzen dunklen Locken schienen sich, ähnlich seinem Temperament, gegen eine akkurate Zügelung zu wehren.
Am liebsten hätte Pauline auf dem Absatz kehrtgemacht und wäre davongelaufen. Nur ihre gute Erziehung hielt sie davon ab, die Flucht zu ergreifen. Auch musste man den Wutausbruch dieses Mannes und seine Unbeherrschtheit sicherlich seiner Sorge um den kleinen Peter zuschreiben. Dieser Gedanke gab Pauline den Mut, das Wort zu ergreifen. «Sie könnten es wirklich mit Weidenrindentee versuchen. Wenn Peter starke Kopfschmerzen hat, wird der Tee lindernd wirken. Und er senkt das Fieber. Gegen den Husten hilft Ingwer. Den soll er langsam kauen. Das schmeckt nicht besonders gut, aber es wird helfen. Man kann auch einen Ingwertee machen. Und Senfpflaster auf der Brust helfen, den Schleim zu lösen.» Sie stockte und zog ängstlich den Kopf zwischen die Schultern, als Reuthers scharfer Blick sie traf.
«Was wissen Sie denn über Arzneien?»
Pauline biss sich verlegen auf die Unterlippe. «Ich … Ich weiß nicht viel. Mein Onkel, bei dem ich aufgewachsen bin, war Badearzt in Bad Bertrich. Er hat viele Patienten mit Lungenerkrankungen und chronischem Husten behandelt. Da habe ich einiges aufgeschnappt.»
«Aufgeschnappt, wie?»
«Ich könnte auf dem Rückweg über den Alter Markt gehen und beim Apotheker Burka Ingwerwurzeln und Weidenrinde für Sie bestellen. Bestimmt ist er so freundlich und lässt Ihnen die Arzneien herbringen. Senfpaste stellt er auch her. Frau Stein lässt sie sich hin und wieder zubereiten.»
«Das würden Sie tun?»
Pauline konnte nicht ausmachen, ob er mit ihrem Vorschlag einverstanden war oder nicht. «Wenn Peter den Tee nicht trinken oder seine Arzneien nicht einnehmen will, tun Sie etwas Honig hinein. Kinder zieren sich oft, bittere oder scharfe Sachen zu sich zu nehmen. Sogar manchen Erwachsenen kann man nur mit honigsüßen Zugaben dazu überreden.»
Julius Reuther runzelte für einen Moment die Stirn und sah sie skeptisch an. Fast schien es ihr, als würden seine Mundwinkel zucken, doch sie konnte sich auch getäuscht haben.
«Sprechen Sie da aus Erfahrung?»
Pauline errötete. «Ja. Ich meine nein. Ich meine, ich habe das bei meinem Onkel erlebt. Und bei den Kindern der Familie, für die ich früher gearbeitet habe.»
«Soso. Als was?»
«Was meinen Sie?», fragte Pauline irritiert.
Julius Reuther stieß einen ungeduldigen Laut aus. «Als was haben Sie gearbeitet?»
«Als Gouvernante.»
«Von der Gouvernante zur Magd.» Reuther öffnete die Tür wieder, was Pauline als Zeichen erkannte, dass sie entlassen war. «Sie gehen in die falsche Richtung», sagte er.
Pauline drehte sich auf der Türschwelle um. «Manchmal wird man in eine bestimmte Richtung gestoßen», antwortete sie. Ohne auf eine Erwiderung seinerseits zu warten, entfernte sie sich. Sie hörte, wie die Haustür hinter ihr ins Schloss fiel. Erst als sie bei Heiner ankam, spürte sie ihren beschleunigten Herzschlag.
Sie hatte sich nichts vorzuwerfen, sagte sie sich. Dieser Julius Reuther war ein unangenehmer Mensch, obwohl er sie mit mehr Respekt behandelte als alle anderen. Ihr fiel ein, dass sie nicht wusste, ob sie die Arzneien beim Apotheker bestellen sollte oder nicht. Nachdenklich blickte sie die Straße hinauf und hinab.
«He, was is’ denn, Prinzessin? Willst du hier Wurzeln schlagen?» Heiner stieß sie unsanft in die Seite.
Pauline betrachtete noch einmal das Haus des Textilfabrikanten. Ob das Licht hinter einem der Fenster im Obergeschoss zu Peters Zimmer gehörte? Der kleine Junge tat ihr leid, obgleich sie ihn gar nicht kannte. «Heiner, wir müssen noch mal zum Alter Markt. Herr Reuther benötigt ein paar Arzneien vom Apotheker, und ich habe versprochen, sie für
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