Das Haus in der Löwengasse (German Edition)
schon viel besser lesen im Vergleich zu dem Tag, an dem ich hier eingezogen bin. Und du rechnest auch prima. Was das Malen angeht: Nicht jeder Mensch ist so talentiert wie deine Schwester. Bestimmt finden wir etwas, in dem du richtig gut bist und sie nicht.»
«Glauben Sie?»
«Dessen bin ich mir sogar vollkommen sicher. Aber Peter, du bist erst sieben Jahre alt.»
«Ich werde im März acht!»
«Also gut, fast acht Jahre alt.» Pauline lächelte. «Du hast noch viel Zeit, viele Dinge zu lernen. Und weißt du was?»
«Was?»
«Ich werde dir mit Vergnügen dabei helfen, wenn du magst.»
Das Gesicht des Jungen hellte sich ein bisschen auf.
Pauline strich ihm übers Haar. «Möchtest du, dass ich dir einen kühlenden Umschlag für deine Wange gebe?»
«Ja … bitte.»
«Hat dich dein Lehrer schon öfter geschlagen, wenn du etwas nicht gleich konntest?»
Peter senkte den Kopf. «Normalerweise nimmt er den Rohrstock. Auch bei den anderen. Aber der ist ihm vorgestern zerbrochen, als er Hans gehauen hat, weil der seine Aufgaben nicht gemacht hatte. Und jetzt hat Herr Stresemann keinen Stock mehr und muss mit der Hand schlagen. Aber er hat gesagt, dass er bald wieder einen Stock kriegt, weil der mehr weh tut. Und wenn es nicht weh tut, merken wir uns die Lektion ja nicht.»
«Soso.» Pauline konnte den Zorn, der in ihr aufstieg, kaum zügeln, doch um des Jungen willen behielt sie die Ruhe. Sie verspürte eine tiefe Abneigung gegen Lehrer, die ihre Zöglinge züchtigten. Sie hatte es selbst in der Schule erlebt – nicht bei sich selbst, denn sie hatte immer alle Antworten auf die Fragen der Lehrerinnen gewusst. Aber den Schmerz, die Erniedrigung in den Augen ihrer Klassenkameraden hatte sie nicht vergessen. Sie wusste, sie hatte keinerlei Handhabe gegen den Lehrer. Körperliche Züchtigung war vollkommen normal in öffentlichen Schulen. Und nicht nur dort – auch Hauslehrer und Eltern schlugen ihre Kinder häufig. Sie würde dennoch mit Herrn Reuther darüber sprechen müssen. So, wie sie ihn einschätzte, würde auch er nicht gerade erfreut sein über die Erziehungsmethoden des Volksschullehrers. Dazu war seine Einstellung zu fortschrittlich. Sie war überrascht gewesen, wie viel er nicht nur von Peter, sondern auch von Ricarda erwartete. Und das, obwohl Mädchen von den meisten Männern nicht mehr Bildung zugestanden wurde als unbedingt notwendig, und auch nur in Bereichen, die ihrer Zukunft als Ehefrauen zuträglich waren.
Frauen gehörten ins Haus, in die Familie. Pauline hatte dies nie weiter hinterfragt. Julius Reuther schien zumindest der Ansicht zu sein, dass Mädchen die gleiche Bildung wie Jungen erhalten sollten. Und über körperliche Züchtigung war nie ein Wort gefallen. Ricarda hatte zwar erzählt, dass ihre Mutter sie geschlagen hatte, aber über Julius hatte sie nichts dergleichen erfahren. Sie ging davon aus, dass er solche Methoden strikt ablehnte.
Noch einmal strich sie Peter über den Kopf und erhob sich dann. «Also gut. Ich mache dir jetzt einen kühlenden Umschlag, und wenn es dir besser geht, kommst du ins Speisezimmer. Louis hat das Mittagessen längst fertig. Du hast doch bestimmt Hunger, nicht wahr?»
«Ja, schon.»
«Na also. Und danach darfst du eine Stunde spielen, bis wir mit den Nachmittagslektionen beginnen.»
***
«Was tun Sie denn da?» Bei ihrem letzten Rundgang durchs Haus am Abend entdeckte Pauline ihren Arbeitgeber im kleinen Wohnzimmer vor Ricardas Staffelei. In der einen Hand hielt er einen dünnen Pinsel, in der anderen die Farbpalette. Da er nicht antwortete, sondern ihr nur kurz über die Schulter einen Blick zuwarf, trat sie neugierig näher. Er hatte eine neue Leinwand aufgespannt. Das Stillleben von Ricarda lehnte an der Wand.
Das Bild, das Julius malte, verblüffte sie sehr. Es war die Fassade des Hauses, vom Tor aus gesehen.
«Was meinen Sie?» Julius deutete mit dem Pinsel auf die Stufen vor dem Eingang. «Sollten hier große Steinkübel mit Grünpflanzen hin oder doch eher etwas Blühendes?»
«Was …?» Das Gebäude auf dem Bild glich bei weitem nicht dem, was man derzeit sah, wenn man das Grundstück betrat. Julius hatte mit wenigen Pinselstrichen grüne Büsche und blühende Ziersträucher vor dem Haus verteilt. Sogar Rosenbüsche konnte Pauline erkennen. Sie musste sich räuspern, um ihre Stimme wiederzufinden. «Sie malen sehr gut, Herr Reuther. Jetzt weiß ich, woher Ricarda ihr Talent hat.»
«Grün oder blühend?», fragte er erneut, ohne
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