Das Haus in der Löwengasse (German Edition)
doch als sie plötzlich ganz ruhig wurde, hatte er davon abgesehen. Jetzt sah er, wie ihr im Schlaf Tränen über die Wangen flossen. Der Anblick zerriss ihm beinahe das Herz. Er streckte die Hand aus, wollte die Tränen fortwischen, doch er traute sich nicht. Stattdessen zog er nur ihre Decke ein wenig höher und erhob sich wieder. Traurig betrachtete er die Frau, die er liebte. Wie kam es, dass sich alle Welt gegen ihn verschworen hatte? War ihm nicht das kleinste bisschen Glück vergönnt? Am Abend, in der Bibliothek, hatte er gespürt, dass es eine Verbindung zwischen ihnen gab. Dass auch sie sie wahrgenommen hatte. Aber wenn er sie jetzt ansah, die Qual von ihren Gesichtszügen ablas, verließ ihn der Mut, dass er sie jemals für sich gewinnen würde.
Müde fuhr er sich mit den Fingern durchs Haar, beugte sich zu Pauline hinab und streifte mit den Lippen ganz sachte ihre Stirn. Dann nahm er seine kleine Handlampe und verließ das Zimmer so leise, wie er es betreten hatte.
***
«Sind Sie so weit?» Julius stand in der Diele, als Pauline die Treppe hinabstieg. Sie trug auf Friedas Rat hin ein eigens für den Rosenmontagsball angefertigtes Barockkleid in Weiß und Hellgelb mit üppigen Rüschen und Schleifen. In der behandschuhten Hand hielt sie die passende Maske, die sie sich vor Betreten des Ballsaales umbinden würde. Ihr Haar war mit weißen und gelben Haarbändern zu einer kunstvollen Frisur aufgesteckt, bei der nicht nur Kathrin, sondern auch Ricarda ihr hatten helfen müssen. Julius’ anerkennender Blick ließ sie leicht erröten, aber sie tat so, als bemerke sie seine Bewunderung nicht. Seit sie an jenem Abend vor einer Woche in der Bibliothek auseinandergegangen waren, gab es eine merkwürdige Distanz zwischen ihnen. Sie sprachen sehr höflich miteinander, aber wichen jedem persönlichen Wort aus und mieden Situationen, in denen sie allein waren. Da es in dem Haus tagsüber von Handwerkern nur so wimmelte und Julius sich sowieso die meiste Zeit in der Fabrik aufhielt, fiel es ihnen nicht schwer, dieses unausgesprochene Arrangement aufrechtzuerhalten.
Pauline spürte, dass sich etwas zusammenbraute. Sie hatten in den vergangenen Monaten zu einem gewissen Konsens gefunden, was ihr Zusammenleben betraf, und waren sogar so etwas wie Freunde geworden. Die angespannte Situation zerrte an ihren Nerven. Aber sie konnte nichts tun. Er sprach mit ihr nicht mehr über seine finanziellen Schwierigkeiten, ja blendete dieses Thema bewusst und sehr gekonnt aus den Alltagsgesprächen aus. Insofern wusste Pauline nicht, ob und zu welcher Entscheidung er mittlerweile gelangt war.
Um seiner Fabrik und Familie willen hoffte sie, dass er vernünftig sein und Oppenheims Angebot annehmen würde. Frieda war nach wie vor sicher, dass es so kommen würde, und war nur allzu bereit, seinen Antrag anzunehmen. Pauline wusste, dass dies nicht zuletzt darauf zurückzuführen war, dass sie selbst Friedas anfängliche Bedenken in vielen Gesprächen ausgeräumt hatte. Sie hatte Julius’ positive Eigenschaften hervorgehoben und Frieda immer wieder versichert, dass sie nichts Schlimmes von ihm als Ehemann zu befürchten haben würde.
Insgeheim schmerzte Pauline diese Vorstellung so sehr, wie ein gebrochenes Herz sie schmerzen würde. So weit, redete sie sich ein, war es zum Glück nicht gekommen. Sie hatte weder sich noch ihm etwas vorzuwerfen. Sich selbst höchstens, dass sie so töricht gewesen war, sich in ihn zu verlieben. Doch das wusste er nicht und sollte es nie erfahren.
Pauline war sich allerdings noch nicht im Klaren darüber, wie sie es ertragen sollte, ihn mit ihrer inzwischen besten Freundin zusammen zu sehen, wenn die beiden erst verheiratet waren. Bestimmt würde es eine Lösung geben. Julius würde sie nicht fortschicken, das wusste sie, denn er war ein Mann, der sein Wort hielt. Das war bisher so gewesen und würde sich auch zukünftig nicht ändern. In seiner Nähe, in seinem Haus, hatte sie sich endlich wieder sicher und geborgen gefühlt. Kraft geschöpft. Sie erinnerte sich nur zu gut an den Albtraum, den sie in jener Nacht nach dem Zwischenfall in der Bibliothek gehabt hatte. Er hatte sich noch zweimal wiederholt. Jedes Mal hatte sie Buschners Geist, wie sie ihn insgeheim nannte, erfolgreich vertrieben. Julius war in diesen Träumen stets wortlos verschwunden. Sie wusste, dass sie sich damit auch in Wirklichkeit abfinden musste. So, wie die Dinge standen, würde es keine Zukunft für sie an seiner Seite
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