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Das Haus

Das Haus

Titel: Das Haus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Maier
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unten seine Jacke auf, aß zu Mittag, und irgendwann nahm er seinen Schulranzen und ging nach oben, trat in die Tür seines Zimmers und blieb dort lange stehen. In den ersten Jahren muß der Schmerz sehr groß gewesen sein. Wenn damals irgend jemand unserer Schwester einen Gegenstand wegzunehmen versuchte, dann wälzte sie sich wie von Sinnen auf dem Boden, schlug mit ihren Fäusten gegen dieWand, riß den Umstehenden an den Haaren und so weiter. Mein Bruder dagegen, dem sie alles zerstört hatte, stand nur stumm da und stellte seine Schultasche ab. Irgendwann muß er sich daran gewöhnt haben, den Schmerz ohne Tränen zu bestehen. Er stand in der Tür, seine Augen wurden groß und nachdenklich. Er war in diesen Augenblicken immer vollkommen allein mit sich auf der Welt, glaube ich. Verlassen von allem. Nach einer Weile betrat er das Zimmer, musterte die verstreuten Bruchstücke, hob das eine oder andere auf, wie um zu überprüfen, ob noch etwas zu retten sei, was natürlich nicht der Fall war. Wie man bei einem Verkehrsunfall noch im Augenblick, da man bereits über die Straße geschleudert wird, denkt, vielleicht sei alles nicht so schlimm und möglicherweise gar nichts passiert, so glaubte mein Bruder in diesen ersten Momenten vielleicht auch, er könne wieder zusammenfügen, was die Schwester auf so nachhaltige und endgültige Weise zerlegt hatte. Erst später begann er »aufzuräumen«, und auch da nahm er jedes Teil noch einmal aufmerksam in die Hand, wie um sich von ihm zu verabschieden, denn in jedem Teil steckte seine Arbeit, von der Bemalung und Chromierung bis hin zum Vertauen der Takelagen und so weiter. Dieses stille Aufräumen dauerte Stunden, während derer die Schwester bei ihren Freundinnen in der Nachbarschaft blieb.
    Manchmal ging sie auch in das Zimmer des Bruders, um bloß einen einzelnen Gegenstand zu zerstören, aber das tat sie am liebsten gerade dann, wenn mein Bruder in seinem Zimmer war. Sie kam herein, sprach nichts und setzte sich auf die Bettkante, wo sie eine Weile sitzen blieb. Er saß am Schreibtisch und machte seine Hausaufgaben, oder er untersuchte gerade etwas mit dem Mikroskop, baute eine Dampfmaschine oder war anderweitig beschäftigt. Irgendwann fragte die Schwester interessiert, was er da mache. Dann erklärte er es ihr und ließ sie auch bereitwillig durch sein Mikroskop blicken, denn seit ihrem letzten Attentat hatte sie wie immer hoch und heilig Besserung gelobt. Aber dann wurde die Lust doch zu groß, und sie nahm das Mikroskop, schlug damit auf meinen Bruder ein oder warf es einfach zu Boden. Es konnte aber auch sein, daß sie bloß interessiert hineinblickte oder sich die Dampfmaschine erklären ließ, dann hinter den Rücken meines Bruders trat, ein Flugzeug in die Hand nahm und es zerbrach, oder ein Brett mit Büchern umkippte, um sofort hinauszurennen, immer mit ihrem konzentrierten, angespannten Ausdruck im Gesicht, über das dann doch der Hauch eines unkontrollierten Lächelns glitt.
    Am meisten interessierte sie sich für neue Gegenstände anderer. Las mein Bruder ein Buch, wollte unsere Schwester dieses Buch auch haben und ließso lange nicht davon ab, bis sie das Buch ebenfalls bekam, obgleich sie es dann gar nicht las. Entweder es wurde zum zweiten Mal gekauft, oder mein Bruder gab ihr das Buch, weil anders die Situation nicht zu lösen gewesen wäre, wie alle wußten. Ging mein Bruder zum Sportverein, mußte sie ebenfalls sofort in einen Sportverein, dann wurde ein Mitgliedsbeitrag für ein halbes Jahr überwiesen, sei es für Tennis, sei es für Eiskunstlauf, sei es für Reiten, dann ging sie zweimal hin, bekam bereits beim dritten Mal einen Wutanfall wegen des Entschlusses, in den Verein eingetreten zu sein und nun also dorthin zu müssen, dann ging sie nicht mehr hin bzw. wurde nicht mehr mit dem Automobil hingebracht. Als mein Bruder eine Gitarre bekam, mußte sofort eine zweite Gitarre angeschafft und noch nach Anmeldeschluß ein Platz in der Anfängergruppe der Musikschule Bad Nauheim gekauft werden, und die Eltern handelten immer wieder so, denn sie wußten, was passieren würde, wenn sie es nicht täten. Aber kaum war meine Schwester in der Gitarrengruppe, machte sie den Unterricht unmöglich und wollte schon zum zweiten Treffen nicht mehr hingebracht werden. Im späteren Verlauf dieser Kindheit wurden Staffeleien gekauft, Grundausrüstungen für verschiedenste Sportarten, Kameras für ein angestrebtes und nie praktiziertes Foto-Hobby, einmal sogar eine

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