Das Herz der Feuerinsel: Roman (German Edition)
kamen ihr bekannt vor, aber sicher war sie sich nicht.
»Wie lange bin ich jetzt bei dir?«, wandte sie sich an Kian Gie.
»Eineinhalb Monate«, erwiderte er. »Heute ist der vierte August.«
Erst eineinhalb Monate … Floortje hatte jegliches Zeitgefühl verloren in den Tagen und Nächten mit Kian Gie. Wehmut stieg in ihr auf, als sie bald darauf den Molenvliet wiedererkannte, wie eh und je zu dieser Stunde von zahlreichen Kutschen und sados belebt. Das Hotel Des Indes zog vorüber und wenig später der festliche beleuchtete Bau der Harmonie ; beide Gebäude riefen nostalgische Erinnerungen an helle, unbeschwerte Zeiten wach. Als wäre sie in einem anderen Leben zuletzt hier gewesen, so kam es ihr vor, und in gewisser Weise traf das auch zu.
Die Gaslaternen dünnten sich aus, verschwanden schließlich ganz, und sie rollten über eine Straße, die durch die vielen Bäume zu beiden Seiten finster wirkte, obwohl zwischen den Stämmen die Lichter kleiner Bungalows heimelig leuchteten. Floortje drehte den Kopf nach allen Seiten; hier war sie gewiss noch nie zuvor gewesen. »Wo fahren wir denn hin?«
»Überraschung«, erwiderte Kian Gie. Sie spürte seine Augen auf ihrem Gesicht ruhen. »Ich muss dich nicht daran erinnern, was ich dir gesagt habe, nicht wahr?«
Floortje schüttelte den Kopf. Seine Anweisungen für den Abend waren unmissverständlich gewesen. Viel lächeln, wenig sprechen. Niemanden um Hilfe ersuchen und gar nicht erst daran denken, fliehen zu wollen.
Kian Gies Arm legte sich um ihre Schultern, und er zog sie an sich. Sein Mund presste sich an ihren Hals und wanderte aufwärts an ihr Ohr. »Dir wird auch niemand helfen wollen«, raunte er ihr zu. »Nicht einer dreckigen kleinen Nutte wie dir. Schon gar nicht einer, die so tief gesunken ist, dass sie es mit einem Chinesen treibt.«
Floortje schluckte und hielt die Tränen zurück, die hinter ihren Lidern brannten.
Unter dem nächtlichen Himmelstuch mit seinem funkelnden Sternenbesatz wurden die Häuser größer und prächtiger, ihre Beleuchtung heller; auf manch einer Veranda konnte Floortje zwischen den dicken, glatten Säulen entzündete Kronleuchter erkennen. Sie horchte auf, als Musik an ihr Ohr drang, stampfend, klimpernd und scheppernd und überschäumend vor Lebenslust. Die Straße öffnete sich vor ihnen auf einen riesigen Platz, und hinter den Bäumen, die ihn umgaben, hinter den zahlreichen Pferdewagen, die dort abgestellt waren, leuchtete es fast taghell. Ein gestreiftes Zelt stand mitten auf dem Platz, majestätisch und ausladend; Wimpel flatterten auf seinem First, und geheimnisvoll zogen Dunstschwaden darüber hinweg. Jetzt war die Musik gut zu hören; ohrenbetäubend laut übertönte sie fast das Stimmengewirr auf dem Platz und die marktschreierischen Rufe. Und das von unzähligen Lämpchen beleuchtete Schild über dem Eingang des Zelts war weithin lesbar: Wilson’s Great World Circus.
»Ein Zirkus!«, entfuhr es Floortje, und sie setzte sich kerzengerade auf. »Wir gehen in den Zirkus!« Ihr Herz sprang ungestüm in ihrer Brust umher, und sie schlug die Hände vor den Mund. Ein einziges Mal im Leben war sie in einem Zirkus gewesen, in Leeuwarden, als kleines Mädchen mit ihrem Vater, kurz bevor Piet zur Welt gekommen war; so lange war es her, dass sie kaum Erinnerungen daran hatte, außer der, dass es ein Tag vollkommenen Glücks für sie gewesen war. Sie warf die Arme um Kian Gie und bedeckte sein Gesicht mit Küssen. »Danke, danke, danke!«
Die Barouche bog auf den Platz ein, holperte über den unebenen Erdboden und hielt an. Jian sprang heraus und half Floortje aus dem Wagen, die dann an Kian Gies Arm über die rote Teppichbahn zum Eingang schritt. Schwer und warm lag der Geruch von Tierleibern in der Luft und der trockenstaubige von Heu, der sich mit dem würzigen Duft der Tropennacht und dem grünen von feuchtem Laub und Gras mischte.
Floortjes Augen glänzten, als sie einem Mann folgten, der auf Stelzen über den Platz stapfte und vor seinem schreiend bunten Jackett eine beschriftete Tafel hertrug. »Ladieees aaanndd Gentlemeeen!«, brüllte er lauthals in die schwungvolle Marschmusik aus dem Zelt hinein, »Mesdaammes eeet Monsieeeurs! Säähr veräährte Daamen und Härreen! Värpassense nickt unsäre Sondärvorställung! Gleich hier …« Sein Arm wies auf ein kleineres Zelt, vor dem zahlreiche Tafeln die Attraktionen verkündeten. Das Kuriositätenkabinett bot eine bärtige Dame auf und dazu noch eine von Kopf bis
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