Das Herz der Feuerinsel: Roman (German Edition)
das kleine Mädchen betrachteten. »Mein Vater hat ihn zu sich geholt. Zu sich nach Amsterdam.«
»Und dich konnte er nicht mitnehmen?«
Floortje zog die Knie noch weiter heran, rieb die Wange an ihrer Schulter und verkroch sich tiefer in der Decke. »Seine neue Frau dort hat so entschieden. Sie wollte nur Piet.« Ihr wurde heiß, heiß vor Angst, dass sie sich schon zu weit vorgewagt hatte.
»Ach, Floortje.« Jacobina streckte die Hand nach Floortje aus, zögerte und legte sie ihr dann doch vorsichtig auf die Schulter. Es versetzte ihr einen Stich, dass Floortje unter ihren Fingern einen Deut zurückwich, ohne sich ihr wirklich zu entziehen; dasselbe Abrücken vor zu viel Nähe, das sie von sich selbst so gut kannte.
Ein flammendes Hochgefühl schoss durch Floortje hindurch, dass sie Jacobina so weit gebracht hatte, sich dazu zu überwinden. Ausgerechnet die nüchterne, unnahbare Jacobina, die Berührungen mied wie der Teufel das Weihwasser. Ein Gefühl des Triumphs war es, als hätte sie Jacobina mit einer besonders gerissenen Lügengeschichte ausgetrickst. Nur eine Lüge mehr, die zu all den anderen Lügen, den dramatisch ausgeschmückten Flunkereien hinzukam; nicht der Rede und schon gar nicht der Reue wert. All diese Lügen, die so viel besser waren als die Wahrheit, die Floortje von sich selbst fernhielt, so gut sie konnte. Als hätte es das kleine Mädchen nie gegeben, das im Haus ihrer Tante und ihres Onkels in Sneek am Fenster gestanden war, hinter der weißen Spitzengardine, und Stunde um Stunde, Tag um Tag, darauf gewartet hatte, dass sein Vater endlich aus der großen Stadt zurückkam, um das Mädchen abzuholen. So wie er Piet abgeholt hatte. Keine Sekunde lang hatte er Floortje in die Augen gesehen, ihr nur mit zitternden Fingern flüchtig über den Kopf gestrichen und sich kein einziges Mal umgedreht, als er mit Piet aus dem Haus gegangen war, so heftig Floortje sich auch im festen Griff von Onkel Ewoud gewunden und so laut sie auch geschrien und geweint hatte.
Die Stichflamme des Triumphs erstickte so plötzlich, wie sie aufgelodert war; stattdessen breitete sich tiefe Traurigkeit in Floortje aus. Weil ihr mit noch nicht einmal ganz neunzehn die Wahrheit manchmal vorkam wie eine Lüge und die Lüge ihr oft näher war als die Wirklichkeit. Weil sie fürchtete, auch nur ein Stückchen ans Licht gebrachte Wahrheit würde mehr davon nach sich ziehen, wie eine Lüge stets weitere nach sich zog, bis nichts von dem, was an der Wahrheit hässlich und abstoßend war, mehr verborgen blieb. In Batavia werd ich ehrlich sein können. So wie mit Jacobina. Bestimmt werd ich das.
Sie tastete blind nach Jacobinas Hand, die noch immer auf ihrer Schulter lag, wenn auch nur halbherzig, und umklammerte sie. Erleichtert spürte sie, wie Jacobina ihren Händedruck erwiderte. Als verkörperte Jacobina alles, was gut und richtig war, anständig, wahr und echt, hatte sie das Bedürfnis, diese Hand nicht mehr loszulassen.
»Floortje, schau«, hörte sie Jacobina raunen, und sie sah auf, folgte mit den Augen Jacobinas Zeigefinger, der Richtung Himmel wies. Ein silbern leuchtender Streif zog sich quer darüber; der Schweif einer Sternschnuppe, die auf den Horizont zustürzte.
»Das ist ein Zeichen«, wisperte Floortje, atemlos vor Glück.
Jacobina widersprach nicht. In dieser Nacht auf See konnte selbst das nüchternste Gemüt nicht anders, als diese Erscheinung als einen Fingerzeig des Himmels zu verstehen, dass auf dieser Reise ein Segen lag.
Dass es für Jacobina und Floortje eine Reise ins Glück sein würde.
II
Im Garten Eden
a
Und Gott der Herr nahm den Menschen
und setzte ihn in den Garten Eden,
dass er ihn bebaute und bewahrte.
Erstes Buch Mose 2, 15
8
Zwei Tage waren es von Singapur nach Batavia.
Vor dem Panorama weich gezeichneter grüner Hügel war Singapur ein Welthafen, über den alle Wege zwischen Ost und West führten. Wie in einem Kaleidoskop zeigte sich hier die menschliche Vielfalt in all den feinen Nuancen von gelber, brauner und schwarzer Haut, die hellen europäischen Gesichter dazwischen eine beinahe geisterhafte Erscheinung, und vor den Kaianlagen, Docks und Lagerhäusern drängelten sich unzählige Schiffe aus aller Herren Länder wie Schwärme von Seevögeln, die es zu einem besonders reichen Futterplatz hinzog.
Zwei Tage, in denen sich die Prinses Amalia durch das Meer und an den darin verstreuten Inseln vorbeifädelte. Durch die glasklare Straße von Malakka, unter einem Himmel, der
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