Das Herz der Feuerinsel: Roman (German Edition)
am Koningsplein. Bis zum Weihnachtsfest waren es nur noch ein paar Tage, und wann immer der Major und Frau de Jong außer Haus waren, übte Jacobina mit den Kindern im kleinen Salon, um die Eltern an Heiligabend mit einem Weihnachtslied zu überraschen.
»Sti-hil-lee Naacht, hei-li-gee Naacht«, sang Jeroen, während Jacobina ihre Finger über die Tasten gleiten ließ und im Takt aufmunternd mit dem Kopf nickte. Die Hände auf dem Rücken verschränkt, lag ein andächtiger Ausdruck auf dem Gesicht des Jungen, die Augen beinahe gläsern vor angespannter Konzentration. »Aaal-les schläft, ein-sam waacht …«
»Thi-hil-lee Naaatt, eil-li-lee Naaatt«, piepste Ida parallel dazu, zupfte rhythmisch an ihrem Sarong und wackelte dabei mit den Schultern vor und zurück. »La-la-leee, la-nawaaa …«
Unvermittelt verstummte Jeroen, den Mund noch halb geöffnet, während Ida weitersang, glücklich darüber, dass ihre Lieblingsstelle kam, bei der sie in ihrer höchsten Tonlage kieksen konnte. »… laaaf in limm-lischer Luh-huuuiih!«
»Jeroen, was ist?« Beunruhigt sah Jacobina den Jungen an, der jedoch nicht antwortete; sein Blick schien völlig gefangen von etwas, das er durch die geöffnete Flügeltür auf der Veranda gesehen hatte, und noch bevor Jacobina hatte nachsehen können, was er so spannend fand, rannte er nach draußen.
»Jeroen?« Jacobina stand schnell auf und folgte ihm.
Ihr Herz setzte einen Schlag aus, als sie ihn auf der Veranda stehen sah, Auge in Auge mit einem einheimischen Jungen. Derselbe Junge, der sich nun schon zum wiederholten Male in den Garten geschlichen hatte.
Jacobinas Pflichtbewusstsein riet ihr, Jeroen ins Haus zu holen und den Jungen zu verscheuchen, wie es Frau de Jong angeordnet hatte, aber sie brachte es nicht über sich. Neugierig musterten sich die beiden Kinder, in ihrer Haltung, ihrem Gesichtsausdruck fast ein Spiegelbild des jeweils anderen, und lächelten einander an, scheu, aber auf eine Art auch herzensselig. Ida kam ebenfalls angelaufen, drückte sich eng an Jacobina und spähte an ihr vorbei zu ihrem Bruder und dem fremden Jungen hin.
Die Kinder und Jacobina zuckten zusammen, als es hinter ihnen klirrte. Melati hatte das Tablett mit Limonade und Keksen so hastig auf dem Tisch abgestellt, dass eines der Gläser umgefallen war, und lief nun auf die Veranda; unsanft, beinahe grob packte sie den Jungen am Ellenbogen, schüttelte ihn und übergoss ihn mit einem Wortschwall, der nach einer Strafpredigt klang. Der Junge war den Tränen nahe, versuchte aber unverdrossen, das Gesicht in Melatis Schoß zu drücken und nach ihrer anderen Hand zu greifen. Eine Ahnung keimte in Jacobina auf, die ihr die Kehle zuschnürte.
»Jeroen«, sagte sie leise zu ihrem Schützling, der die erschrocken aufgerissenen Augen zwischen dem Jungen in Melatis Griff und Jacobina hin und her wandern ließ. »Was hältst du davon, wenn du hinaufgehst und deine Holzeisenbahn holst, um sie dem Jungen zu zeigen? – Die gefällt ihm bestimmt, und dann könnt ihr zusammen damit spielen«, bekräftigte sie, als Jeroen sie zweifelnd ansah, und strich Ida über das helle Haar. »Und du gehst mit und holst die Lola, die schaut er sich bestimmt auch gern an.«
Jeroen schien wenig überzeugt, gehorchte aber und nahm im Vorbeigehen seine Schwester bei der Hand, während er über die Schulter immer wieder Blicke zu dem anderen Jungen hin warf. Mit verschränkten Armen sah Jacobina ihnen hinterher, dann wandte sie sich wieder Melati zu.
Ihre Schimpftirade hatte an Kraft verloren und klang nun mehr nach Trost, aber auch nach Verzweiflung, während aus den Augen des jämmerlich schluchzenden Jungen dicke Tränen kullerten, die er vergeblich mit der geballten Faust zurückzudrängen versuchte.
»Melati.« Ängstlich sah die Kinderfrau zu Jacobina auf. »Das ist dein Sohn, nicht?«
Dass Melati ganz gut Holländisch verstand, hatte Jacobina gleich an ihrem ersten Tag festgestellt, aber sie hatte es Melati nie sprechen hören. Umso erstaunter war sie nun, als Melati rief: »Nicht nyonya besar sagen, dass hier! Nyonya besar sonst sehr böse! Nicht sagen, bitte!« Flehentlich klang sie, und ihre Augen schwammen in Tränen.
»Nein«, versicherte Jacobina ihr. »Bestimmt nicht. Wie alt ist er?«
Melati hob die freie Hand mit gespreizten Fingern. Fünf. Also knapp ein Jahr jünger als Jeroen. Bei ihrer Ankunft hier hatte Ratu gesagt, Melati sei von Anfang an die babu der Kinder gewesen, demnach musste sie ihren Sohn zur
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