Das Herz des Bösen: Roman (German Edition)
erkannte ihre eigene Stimme kaum wieder und konnte die Augen nur mit Mühe offen halten.
»Zuerst machst du ein kleines Nickerchen. Dann duschst du dich, wäschst dir die Haare, putzt die Zähne und machst dich hübsch fein für Mami. Und dann fahren Nikki und ich dich zurück in die Stadt.«
»Können wir nicht einfach gleich aufbrechen?«
»Nein, dafür bist du viel zu müde«, sagte Henry und beugte sich näher, bis sie seinen warmen Atem auf ihren Lippen spürte. »Brianne«, flüsterte er, als ihre Augen flatternd zufielen. »Brianne, kannst du mich hören?«
Brianne öffnete den Mund, doch kein Laut drang heraus.
Und dann sah und hörte sie gar nichts mehr.
KAPITEL 26
Val dachte an ihre Mutter. Nicht an die Frau, die sie heute war, gebrochen und benebelt von zu viel Alkohol. Auch nicht an die verwirrte und verunsicherte Frau ihrer Teenagerzeit, deren Selbstbewusstsein von den ständigen Affären ihres Mannes und ihren eigenen endlosen Beschönigungen ausgehöhlt worden war, sondern an die starke und unverwüstliche Mutter ihrer Kindheit, die Frau, die ihr beigebracht hatte, ihrem Instinkt zu folgen und auf eigenen Füßen zu stehen.
»Ich will heute nicht in den Kindergarten, Mami«, erinnerte sie sich, ihrer Mutter im Alter von vier Jahren erklärt zu haben.
»Warum denn nicht, Schätzchen?«
»Da ist ein Junge, der ist immer gemein zu mir. Er sagt böse Sachen.«
»Was für böse Sachen sagt er denn?«
Die kleine Valerie hatte sich gerader aufgerichtet und ihre Brust rausgestreckt. »Er sagt Fotze und Lutscher zu mir«, verkündete sie mit Empörung in ihrer dünnen Stimme. Obwohl sie keine Ahnung hatte, was die beiden Wörter bedeuteten, klangen sie nicht gut. »Kommst du mit und sagst ihm, er soll mich nicht mehr Fotze und Lutscher nennen?«, fragte sie und sah, wie ihre Mutter sich auf die Unterlippe biss und an dem Lachen, das sie unterdrückte, beinahe erstickte.
»Oh, ich glaube, mit dem kommst du auch alleine klar«, brachte sie schließlich heraus.
Und wie sie mit ihm klargekommen war. Noch am selben Nachmittag war sie wieder in den Kindergarten gegangen und hatte dem kleinen Jungen eine aufs Maul verpasst, sobald er den Buchstaben »F« ausgesprochen hatte.
»In der Schule gibt es nächsten Monat einen ›Schwimm für dein Leben‹-Wettbewerb«, hatte die inzwischen achtjährige Valerie ihren Eltern verkündet. »Um Geld für einen guten Zweck zu sammeln. Ich brauche jede Menge Sponsoren. Jede Bahn, die man schwimmt, bringt Geld ein. Und ich will die meisten Bahnen schwimmen und das meiste Geld sammeln.«
»Für mich kannst du einen Dollar pro Bahn aufschreiben«, hatte ihr Vater hinter der Zeitung, in die er vertieft war, angeboten.
»Wie wär’s mit zehn?«, hatte ihre Mutter entgegnet und mit einem Blinzeln in Valeries Richtung hinzugefügt: »Wer nichts verlangt, kriegt auch nichts, Schätzchen. Man muss im Leben den Mund aufmachen.«
Die kleine Valerie hatte ihre Mutter nicht enttäuscht und war zur großen Überraschung aller vierundsiebzig Bahnen geschwommen. Ihre Mutter hatte stolz am Beckenrand gestanden, während ihr Vater widerwillig einen Scheck über siebenhundertvierzig Dollar ausgestellt hatte.
Das geschah ihm recht, dachte Val jetzt. Er hatte nie geglaubt, dass sie es schaffen könnte. Er hat nicht mal aufmerksam zugesehen.
Sie erinnerte sich an den gelangweilten Ausdruck im Gesicht ihres Vaters und daran, wie er nach ein paar Bahnen zu der attraktiven jungen Mutter von Ava McAllister geschlendert war, die mit einigen ihrer ebenso jungen und attraktiven Freundinnen da war. Den Rest des Schwimmwettbewerbs hatte er mit einem plaudernden Flirt verbracht und nur hin und wieder zum Becken geblickt, wo seine Tochter weiter Länge um Länge schwamm und erst wieder auftauchen wollte, wenn sie sich der ungeteilten Aufmerksamkeit ihres Vaters sicher war. Sie hörte – völlig erschöpft und kurz vor dem Zusammenbruch – erst auf, als er endlich in ihre Richtung blickte, obwohl ihr, als sie die Szene später in ihrer Erinnerung noch einmal durchspielte, bewusst wurde, dass er wahrscheinlich nur einen verstohlenen Blick auf die Uhr an der gegenüberliegenden Wand geworfen hatte. Mit dem instinktiven Gespür eines Kindes begriff sie auch, dass sie es mit diesen Frauen nie würde aufnehmen können, egal was sie leistete und wie viele Bahnen sie schwamm. Sie war einfach nicht interessant genug, um seine Aufmerksamkeit zu verdienen. Sie war ihrer nicht wert.
An jenem Abend
Weitere Kostenlose Bücher