Das Herz des Bösen: Roman (German Edition)
Er sah Brianne fragend an.
»Valerie Rowe«, sagte Brianne rasch. »R-O-W-E.«
»Valerie Rowe«, wiederholte er. »Soweit ich weiß, hat sie mit ihren Freunden von gestern auf heute bei Ihnen übernachtet. Ja. R-O-W-E. Genau. Selbstverständlich, ich bleibe dran.«
»Meinen Sie, ich könnte noch ein Glas Wasser haben?«
»Warum machst du Brianne nicht deinen leckeren Pfirsich-Preiselbeer-Tee?«, schlug Henry vor. »Tee tut sehr gut.«
»Nein, nicht nötig. Wirklich. Ich möchte Ihnen keine Umstände machen.«
»Das macht keine Umstände. Das Wasser ist schon heiß«, sagte Nikki und wies auf das Sofa. »Setz dich. Mach’s dir bequem.«
Dazu musste man Brianne nicht zweimal auffordern. Trotz des Durcheinanders und des nach wie vor stechenden Geruchs – oder vielleicht auch deswegen – hatte sie Mühe, sich auf den Beinen zu halten. Sie ließ sich auf das Sofa fallen und spürte, wie Müdigkeit sich über ihre Schultern breitete wie eine schwere Decke. War sie in ihrem ganzen Leben je so erschöpft gewesen? Sie wendete den Kopf zu den Schlafzimmern im hinteren Teil der Hütte, fragte sich wieder, was mit Tyler geschehen war und dachte, wie schön es wäre, sich auf einem weichen Bett auszustrecken und für ein paar Stunden ungestört zu schlafen, bevor sie ihrer Mutter gegenübertreten musste. »Schläft Ihre Großmutter noch?«, fragte sie.
»Meine Großmutter?« Nikki hängte einen Teebeutel in einen Becher, füllte ihn mit Wasser aus dem Kessel und gab heimlich zwei Tabletten hinzu.
Brianne fragte sich abwesend, wie lange das Wasser schon in dem Kessel gestanden hatte und ob es überhaupt noch heiß war. »Tut mir leid. Ich dachte, Sie hätten gesagt, das wäre ihr Haus.« Zum zweiten Mal an diesem Vormittag hatte Brianne das Gefühl, sie würde womöglich halluzinieren und die ganze Episode sei nur Teil eines weiteren, düsteren Traums.
»Sie ist für ein paar Tage weggefahren. Hier«, sagte Nikki und gab ihr den Tee. »Trink.« Sie beobachtete Brianne eingehend, während diese den größten Teil des Tees in einem großen Schluck trank. »Wie schmeckt’s?«
»Super«, sagte Brianne, obwohl der Tee in Wahrheit höchstens lauwarm und eher bitter als süß war. Trotzdem war sie so durstig, dass sie ohne weitere Aufforderung auch den Rest trank. »Danke.« Sie blickte zu Henry. »Haben sie meine Mutter schon gefunden?«
Er starrte sie kurz an, bevor er flüsternd den Hörer sinken ließ. »Alles wird gut, Brianne«, begann er. »Du darfst dich nicht aufregen …«
»Ist meiner Mutter irgendwas zugestoßen? Ist sie verletzt?« Brianne versuchte aufzustehen, doch ihr war, als wären ihre Knöchel mit Gewichten beschwert worden, sodass sie, unfähig zu stehen, wieder in die Polster sank.
»Deiner Mutter geht es gut.«
»Was ist dann passiert?«
Wieder zögerte er kurz, bevor er weitersprach. »Offenbar sind sie und ihre Freunde vor einer Stunde abgereist.«
»Was soll das heißen, sie sind abgereist?«
»Sie haben beschlossen, früher nach Hause zu fahren, und sind gleich heute Morgen aufgebrochen. Die Managerin meinte, sie wären alle stocksauer gewesen …«
»Es ist mir egal, ob sie sauer waren«, protestierte Brianne. »Sie würden mich nie allein zurücklassen.«
»Es tut mir schrecklich leid, aber es sieht so aus, als hätte sie genau das getan.«
»Was? Nein. Das ist alles ein großes Missverständnis. Sie sind wahrscheinlich bloß zurück zum Hotel gefahren, um dort auf meinen Vater zu warten.«
»Soll ich im Hotel anrufen?« Ohne ihre Antwort abzuwarten, wählte Henry umgehend eine weitere Nummer.
Brianne versuchte sich einzureden, dass es nicht ungewöhnlich war, dass ein Park Ranger die Nummer des Hotels am Shadow Creek auswendig kannte, genauso wie sie sich einzureden versuchte, dass Henry nicht zusammengezuckt war, als Nikki erklärt hatte, dass die stinkende Hütte ihrer Großmutter gehörte. Sie verdrängte, dass dieses Mädchen in ihrem zu großen Kleid und mit ihrem bitter schmeckenden Tee irgendwie äußerst sonderbar war. Vor ihren Augen drehte sich alles, doch das hatte sicher damit zu tun, dass sie so müde war, sonst nichts. Sie versuchte sich einzureden, dass sie in der Tat halluzinierte.
»Der Hotelmanager sagt, er hat deine Mutter nicht gesehen und auch nichts von ihr gehört, seit sie die Hotelanlage gestern verlassen hat«, sagte Henry mit einer Stimme, die nur noch in Wellen bis in Briannes Bewusstsein vordrang.
»Und was machen wir jetzt?«, fragte Brianne. Sie
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