Das Herz des Bösen: Roman (German Edition)
die dunkelrote Flüssigkeit in ihr Glas fließen und fragte sich, was sie da machte. Wegen der bedauerlichen Neigung ihrer Mutter hatte sie sich selbst nie mehr als ein Glas Wein erlaubt, geschweige denn den Luxus eines kleinen Schwipses. Aber hey, dies waren besondere Umstände, entschied sie, und bedeutete dem Kellner, das Glas vollzugießen. In ein paar Tagen wurde sie vierzig, was niemanden in ihrer Familie groß zu kümmern schien. Ihre Mutter war zu betrunken, ihr Vater zu beschäftigt, ihre Schwester zu entfremdet und ihre Tochter zu egozentrisch. Nur ihr zukünftiger Exmann, die Liebe ihres Lebens, der in wenigen Wochen nicht mehr zu ihrem Leben gehören würde, hatte es überhaupt erwähnt.
Betrachte es als Teil deines Geburtstagsgeschenks , hatte er gesagt.
Was hatte er damit gemeint?
Gott sei Dank waren James und Melissa hier, dachte sie, verdrängte alle Gedanken an Evan und lächelte ihre Freunde an. Sie hatten nicht nur an ihren Geburtstag gedacht, sondern auch selbstlos ihre eigenen Feierpläne hintangestellt, um ihr einen Gefallen zu tun. Und wofür? Für das?
Die unglückliche Gruppe saß um einen runden Tisch am Fenster mit Blick auf den Shadow Creek und Lake George in der Ferne, und keiner von ihnen konnte seine Anspannung verbergen. Draußen war es nach wie vor hell, erst in etwa einer Stunde würde es Nacht werden. In den Bergen wurde es immer viel schneller dunkel, wie Val wusste. Sie wünschte, sie hätte wie Jennifer vor dem Essen geduscht oder sich wenigstens umgezogen. Nicht dass sie der wie immer hinreißenden Jennifer in ihrer modisch zerknitterten, weißen Leinenhose und der frischen rot-weiß gestreiften Bluse Konkurrenz hätte machen können.
Und welche Konkurrenz auch, fragte Val sich und trank einen großen Schluck Wein. Der Wettbewerb war beendet. Jennifer hatte schon gewonnen.
Außer …
Es ist wichtig, Val , hatte Evan sie zum Bleiben gedrängt. Sie malte sich aus, wie er fortfahren würde: Ich liebe dich . Du bist die einzige Frau, die ich je geliebt habe. Ich darf dich nicht verlieren. Und ich werde dich nicht verlieren .
»Hey, Mom. Vorsichtig mit dem Zeug, okay?«
»Irgendwas nicht in Ordnung mit deinem Lachs?«, fragte Val zurück. Brianne hatte den Fisch die ganze Zeit auf ihrem Teller hin und her geschoben und kaum einen Bissen gegessen.
»Ich hab dir doch gesagt, ich hab keinen Hunger.«
»Möchtest du mein Kalbsschnitzel probieren? Es ist wunderbar.«
»Es ist ein Kuhbaby. Ich finde das ekelhaft.«
»Nein, gar nicht, es ist köstlich.« Val kaute mit übertriebener Begeisterung, während sie verstohlen auf die Teller der anderen blickte. James und Jennifer hatten den Tunfisch bestellt, während Melissa einen Teller Pasta Primavera verputzte. Sogar das frisch vermählte, zankende Paar am Nebentisch hatte sich auf Fisch geeinigt. War sie der einzige verbliebene Fleischesser auf dem Planeten, fragte sie sich, schaufelte eine weitere Gabel voll in den Mund und spülte ihn mit einem Schluck Wein herunter.
»Ich habe mit elf mehr oder weniger aufgehört, Fleisch zu essen«, sagte Jennifer. »Meine Mutter musste jeden Abend zwei verschiedene Essen kochen.«
»Siehst du«, sagte Brianne zu Val und schaffte es, die beiden schlichten Worte vorwurfsvoll klingen zu lassen. »Alles halb so wild.«
Setz es einfach auf die immer länger werdende Liste meiner Fehler, dachte Val und sah sich in dem Raum um, der sich vor ihren Augen drehte. Ein paar Tische entfernt meinte sie die Frau wiederzuerkennen, die sie vorhin vor dem Aufzug beinahe umgerannt hätte, ins Gespräch vertieft mit einem jungen Mann, aber ganz sicher war Val sich nicht. Eigentlich war sie sich über gar nichts mehr sicher.
»Meiner Mutter war alles – und ich meine alles – zu viel«, sagte James. »Kochen hat sie leidenschaftlich gehasst. Aber sie backte erstaunlicherweise für ihr Leben gerne Schokoladenkuchen. Und ich muss zugeben, es war der beste Schokoladenkuchen, den ich bis heute je gegessen habe.«
»Für meine Mutter hieß Kochen eine Dose aufzumachen«, sagte Melissa, die sich auch in der Hinsicht von niemandem übertrumpfen lassen wollte. »Ich war einundzwanzig, als mir bewusst wurde, dass es so etwas wie frisches Gemüse gab.«
»Ich hab überlegt, Vegetarierin zu werden«, sagte Brianne.
Wer war dieses Mädchen eigentlich, fragte Val sich und starrte ihre Tochter an, deren Gesicht sich in zwei verschwommene Hälften zu teilen schien. Und was hatte sie mit Brianne bloß falsch
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