Das Herz des Bösen: Roman (German Edition)
reden sehen, und seitdem habe ich keinen von beiden mehr gesehen.«
»Glaubst du wirklich?«
»Es wäre möglich.«
Was wollte Brianne von Garys Sohn, fragte Val sich. »Hat Hayden ein Handy?«, fragte sie, und die Antwort war mit einem Mal völlig klar.
»Sicher.«
»Ich bring sie um«, sagte Val.
Gary lachte. »Wie du bestimmt schon gemerkt hast, ist der Handyempfang hier in den Bergen bestenfalls wackelig. Es kann gut sein, dass sie niemanden erreicht.«
»Ich bring sie trotzdem um.«
Val beobachtete, wie Garys Lippen sich zu einem verführerischen Lächeln verzogen, das mit unausgesprochenen Möglichkeiten lockte. You were the moment , erinnerte Val sich an den Text eines Liedes, das sie früher geliebt hatte. And the moment is gone .
Aber der Moment war nicht vorbei. Der Moment stand direkt vor ihr.
Furchtlos hatte Gary sie genannt.
Doch furchtlos zu sein war nicht dasselbe, wie wirklich Mut zu haben. Und in Wahrheit war sie auch gar nicht furchtlos. Das war sie nie gewesen. In Wahrheit hatte sie ihr Leben lang Angst gehabt, Angst, dass sie es nicht wert war, geliebt zu werden, weil alle, die ihr am Nächsten standen, sie verlassen hatten, erst ihr Vater, dann ihre Mutter, dann ihre Schwester. Evan war lediglich der Letzte in einer langen Reihe.
Sie fragte sich, wann sie angefangen hatte, sich nur noch als Anhängsel von anderen zu definieren – ihrer Mutter Tochter, Briannes Mutter, Evans Frau. Wann hatte sie – offenbar allzu bereitwillig – ihre einst beträchtliche Kraft und Macht aufgegeben? Wo es einmal einen pulsierenden Kern gegeben hatte, erstreckte sich nun eine Art Einöde, eine verwirrende überwucherte Landschaft, durch die sie jahrelang blind gestolpert war. Und irgendwo dort war auch das Mädchen, das sie aus den Augen verloren hatte, das Mädchen, das sie selbst im Stich gelassen hatte.
Und auch wenn die ständigen Affären ihres Mannes zumindest teilweise für die stete und langsame Erosion ihres Stolzes und ihrer Selbstachtung verantwortlich waren, konnte sie nicht allein Evan die Schuld geben. Genauso wenig, wie sie alles darauf schieben konnte, dass ihr Vater die Familie verlassen und ihre Mutter angefangen hatte zu trinken. In zwei Tagen wurde sie vierzig. War es da nicht Zeit, dass sie endlich erwachsen wurde und Verantwortung für ihr eigenes Leben übernahm? Wie viel Zeit wollte sie noch verschwenden?
Val sah Gary tief in die Augen und wusste, dass sie morgen garantiert ihrer getrennten Wege gehen würden, sie zurück nach Brooklyn, er nach Connecticut. Die Entfernung zwischen beiden Orten war zwar kaum unüberwindbar, aber doch weit genug. Natürlich würde er versprechen, Kontakt zu halten, doch nach ein paar E-Mails würde die Sache im Sand verlaufen. Schon bald würde sie kaum mehr als eine kuriose Ergänzung seiner Erinnerungen an die Highschool sein. Du glaubst nicht, wen ich vor ein paar Wochen getroffen habe. Erinnerst du dich an Valerie Marcus? Ein lebhaftes, kleines Ding. Konnte ums Verrecken keinen Schmetterlings-Stil. Küsst aber ziemlich gut .
Sie könnte ihm ebenso gut mehr geben, woran er sich erinnern konnte, dachte Val und rückte näher. Gut, er war nicht Evan. Aber im Augenblick hatte er einen eindeutigen Vorteil gegenüber ihrem streunenden Mann – er war hier.
Diesmal ergriff sie die Initiative, ihn zu küssen. »Komm«, flüsterte sie, löste sich aus seiner Umarmung und zog ihn zu ihrem Zelt.
Er zögerte. »Jetzt?«
»Hast du ein Problem mit jetzt?«
Das Lächeln in seinem Gesicht wurde breiter. »So furchtlos wie eh und je«, sagte er mit einem bewundernden Kopfschütteln.
»So furchtlos wie eh und je«, bestätigte sie.
»Val! Val, hier drüben«, rief James, als sie und Gary ungefähr eine halbe Stunde später in die Mitte des Campingplatzes zurückkehrten. James winkte ausladend mit seinen dünnen Armen, damit sie ans Lagerfeuer kamen. »Kommt, setzt euch. Wir wollen gerade › Everything’s Coming Up Roses ‹ singen.«
»Er ist in seinem Element«, sagte Melissa.
»Wer hätte gedacht, dass Zelten so viel Spaß macht?«, quiekte James regelrecht entzückt.
»Hat einer von euch Brianne gesehen?«, fragte Val, bestürzt, dass ihre Tochter nach wie vor nicht zurück war, während sie bereits erste Zweifel an ihrer spontanen Liebelei mit Gary hegte. Das war wahrscheinlich nicht besonders klug gewesen, dachte sie und entschied dann, dass das genaue Gegenteil richtig war. Mit Gary zu schlafen war das Klügste gewesen, das sie seit Jahren
Weitere Kostenlose Bücher