Das Herz des Ritters
Wut zu nähren, denn sie wusste, sie musste sich an irgendetwas festhalten können, wenn sie Sebastian wiedersah. Sie konnte es sich nicht erlauben, schwach zu werden – nicht ihm gegenüber und ganz gewiss nicht gegenüber ihrer Mission. Sie war stark. Musste stark sein.
Es war besser für sie, die Gedanken an den heutigen Vorfall zu verdrängen. Alles zu vergessen, um ihr Ziel nicht aus den Augen zu verlieren. Dazu aber war es nötig, zunächst einmal die grauenvollen Erinnerungen an diesen Tag zu beseitigen. Sich beharrlich zuredend, dass alles wieder ins Lot käme, streifte sie rasch das ruinierte Gewand ab und schlüpfte in eine saubere Chemise, ehe sie sich zu dem Waschtisch auf der anderen Seite des Zimmers begab. Mit beiden Händen schöpfte sie sich das kalte Wasser ins Gesicht, doch sie beging den Fehler, kurz aufzusehen, ehe sie alle Spuren des Verbrechens beseitigt hatte.
Der blanke Spiegel über der Schüssel zeigte ihr Ebenbild, doch sie erkannte die Frau, die ihr entgegenblickte, nicht wieder. Sie sah älter aus, müder, als sie es mit ihren nicht einmal zwanzig Lenzen sein sollte. Ihr Blick war gehetzt, die Augen rot gerändert, ihre Stirn blutbespritzt, ebenso die Wangen, die nur dort keine roten Spuren aufwiesen, wo Tränen geflossen waren.
War sie wirklich diese Frau im Spiegel? War das aus ihr geworden?
Zahirah fuhr sich mit der nassen Hand über die Stirn, sah zu, wie die Wassertropfen über ihre Nase und an ihren Augen vorbeirannen und sich rot färbten, als sie mit Abduls Blut in Berührung kamen. Unvermittelt tauchte der Moment seines Todes wieder vor ihrem inneren Auge auf. Sie sah, wie Halim mit dem Dolch zustieß, Abduls Körper in sich zusammensackte und zu Boden fiel. Hörte die Anschuldigung, die er ihr mit dem letzten Atemzug zuzischte.
Assassinin.
Zahirah kämpfte gegen die Schuldgefühle, die in ihr aufstiegen. Ihre Beine drohten nachzugeben, und sie klammerte sich am Rand der Waschschüssel fest. »Ich bin Zahirah bint Sinan, Tochter von Raschid ad-Din Sinan«, flüsterte sie, zwang ihr elendes Spiegelbild, die Worte auszusprechen. Worte der Loyalität und Unterwerfung, die man sie schon als kleines Mädchen gelehrt hatte. »Ich bin eine Assassinin. Mein Schicksal ist vorbestimmt. Ich werde es nicht infrage stellen. Ich werde nicht versagen. Ich werde nicht …«
Die Frau im Spiegel wusste, dass die Worte reine Heuchelei waren und sie sich zum Gespött ihrer selbst machte. Ihre Augen blickten traurig, mitleidig.
»Du bist eine Heuchlerin«, sagte sie.
Und während ihr wieder Tränen über die Wangen strömten, hob Zahirah die Waschschüssel hoch und warf sie mitten in das Gesicht dieser weinenden Frau, und Schüssel, Spiegel und Spiegelbild zersplitterten gleichzeitig.
13
Ganz Askalon befand sich in einem Zustand der Benommenheit. Händler packten ihre Waren zusammen und verließen den Souk, ohne einen Gedanken an entgangene Profite zu verschwenden. Einheimische mieden die Straßen und öffentlichen Plätze und eilten nach Hause, um die Tür so fest hinter sich zu verriegeln, als warte Gevatter Tod höchstpersönlich auf der anderen Seite auf sie. Als der Abend anbrach, wagten nur noch wenige Seelen den Gang durch die im Zwielicht liegende Stadt. Sebastian und Logan befanden sich unter ihnen.
Sie hatten den Großteil des Tages damit verbracht, die Stadt nach dem Mörder zu durchkämmen und mit den wenigen Menschen zu sprechen, die bereit waren, sich mit ihnen über das Verbrechen in der Moschee zu unterhalten. Allerdings erfuhren sie herzlich wenig dabei. Obwohl sich Hunderte zum Freitagsgebet versammelt hatten, gab nur weniger als ein Dutzend zu, sich zum Zeitpunkt des Mordes an Abdul in seiner Nähe aufgehalten zu haben.
Ihre Berichte über das Geschehen wichen beträchtlich voneinander ab, doch alle waren sich in einer beunruhigenden Sache einig: Nur wenige Augenblicke vor dem Mord war Zahirah gesehen worden, wie sie sich mit einem Sarazenen unterhielt – vielmehr stritt, wie mehrere Beobachter angaben –, und zwar direkt vor der Gebetshalle. Und dieser Mann war nicht Abdul gewesen.
»Wer war es, was meinst du wohl?«, fragte Logan, nachdem sie den letzten Zeugen entlassen hatten und er neben Sebastian durch die dunklen Straßen zum Palast zurückging. »Hatte Lady Zahirah erwähnt, ob sie jemanden bei der Moschee treffen wollte?«
»Nein. Sie hatte lediglich den Wunsch geäußert, am Gebet teilnehmen zu dürfen. Sie hat förmlich darauf bestanden, dass ich
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