Das Herz von Veridon: Roman (German Edition)
alten Gottheiten dort, eine der Celesten, die unsere ursprünglichen Siedler erwarteten, schwebend und stumm über das Delta wachend, aus dem letztlich Veridon werden sollte. Das war lange vor der Kirche des Algorithmus und ihrer technospirituellen Herrschaft.
Es gab fünf Celesten, zumindest war das mein letzter Kenntnisstand. Früher einmal waren es sechs gewesen, aber der Wächter flackerte und verschwand vor etwa zwanzig Jahren. Ich erinnerte mich noch vage daran. Meine Mutter hatte damals in einem Wandschrank geweint, mein Vater hatte die schweren Vorhänge des Esszimmerfensters zugezogen und im Geheimen dicke Kerzen angezündet, die stark nach heißem Sand rochen. Meine Eltern hielten an den alten Traditionen fest, zumindest zu Hause.
Die Tür des Doms stand offen, also trat ich ein. Die Mauern waren dick – anderthalb Meter Stein, durchsetzt mit Eisenstützen, um das Gebilde zusammenzuhalten. Die anderen Celesten besaßen festliche Häuser, Stätten für Gebete und Rituale. Der Dom der Sängerin hingegen diente ursprünglich praktischen Zwecken. Sie sang – und zwar laut. Zumindest hatte sie das früher getan. Als ich nun die kühle Dunkelheit des Doms betrat, hörte ich nur über den Steinboden schlurfende Füße und das leise Seufzen von Windstößen, die durch die zugigen Höhen wehten. Die Sängerin schwieg, und ich verspürte einen frostigen Schauder.
Das Hauptgeschoss des Doms bestand aus einem einzigen offenen Raum, der Boden aus lose aneinandergefügten Steinen, von der Zeit gezeichnet und uneben. An den Mauern hingen Überreste heiliger Wandteppiche, umrahmt von Wandleuchtern mit erkalteten Fackeln. Es herrschte wenig Licht, zunächst gab es überhaupt nur die spärliche Helligkeit, die durch die offene Tür hinter mir einfiel.
Ich ging hinein. Nach einer Weile passten sich meine Augen den düsteren Verhältnissen an. Es gab noch eine andere Lichtquelle, einen bläulichen Schimmer, der vom ersten Stockwerk stammte. Eine breite Treppe aus Schmiedeeisen wand sich in der Mitte des Raums empor. Sie umringte einen Fleck kahler Erde wie eine Schraube, die entlang einer Luftsäule aufstieg. Die Decke wies eine Höhe von rund neun Metern und eine etwa sechs Meter breite Öffnung auf, durch die sich die Treppe erstreckte. Durch dieses Loch fiel der Schimmer herein.
Ich blieb an dem kahlen Fleck des Bodens stehen und schaute hinauf. Oben konnte ich den schattigen Schemen der Celeste erkennen, der die glatte weiße Decke des Doms verdunkelte. Die Sängerin schwebte im leeren Raum und starrte auf die nackte Erde herab. Etwas hatten wir über die Celesten gelernt: Man konnte unter ihnen nichts errichten. Sie übten eine Art erodierende Kraft aus, die kerzengerade nach unten wirkte. Jedes Bauwerk unter ihnen verwandelte sich innerhalb von wenigen Wochen in diesen körnigen, grauen Sand. Die Steinplatten in der Nähe des Sandes ließen allmählich ihr Alter erkennen, und die Ecken bröckelten unter meinen Füßen wie abgestandener, hart gewordener Käse.
Die Treppe verlief rings um diesen kreisförmigen, durch die Gottheit entstandenen Erosionsfleck und stieg langsam auf, bis sie das Obergeschoss erreichte. Das Innengeländer bestand aus blankem, schartigem Rost. Ich stellte einen Fuß auf die erste Stufe und lauschte den Protestgeräuschen des Metalls.
Mir fiel ein, dass ich beim Eintreten Schritte gehört hatte, die mittlerweile verstummt waren. Dieses Geschoss präsentierte sich menschenleer. Wer auch immer anwesend sein mochte, musste sich daher oben befinden. Hoffentlich mein Vater. Seufzend begann ich den Aufstieg. Die Treppe ächzte und stöhnte unablässig. Auf halbem Weg nahm ich die leere Flinte in die Hände. Sie fühlte sich gut an, auch wenn sie eine Drohung darstellte, die ich nicht wahrmachen konnte.
Je höher ich gelangte, desto strahlender wirkte die Celeste. Ich hielt den Kopf gesenkt und die Schultern angezogen, um dafür zu sorgen, dass die Sängerin nicht direkt in mein Blickfeld geriet, denn ich musste in der Lage bleiben, deutlich zu sehen. Ich verursachte genug Lärm, um die Person oben zweifelsfrei wissen zu lassen, dass ich mich näherte.
Die Treppe hielt durch, und ich schaffte es ins Obergeschoss. Als ich es erreichte, duckte ich mich. Auf den ersten Blick wirkte der Raum verwaist.
Entlang der gekrümmten Außenmauer dieser Ebene befanden sich insgesamt sechs Gebetsschreine, einer für jede Celeste und jeden Celesten, darunter der vernagelte Schrein des toten Wächters. Sie
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