Das Hexenkreuz
doch, was macht einen dazu? Für eine kurze Zeit
habe ich ein völlig anderes Leben geführt, weil ich es nicht besser wusste.
Dann bin ich Pater Baptista begegnet, der mich in mein altes Leben
zurückgeführt hat. Seit jenem Tag fühle ich mich entzweigerissen. Man stülpt
nicht jemandem eine Soutane über und gibt ihm damit seine Berufung zurück.
Diese Erkenntnis war schmerzlich für mich, nichtsdestotrotz ist sie wahr.“
„Hast du
dich in diesem Dorf glücklich gefühlt?“
„Glücklich?
Ich weiß es nicht zu sagen“, antwortete er ehrlich. „Glück verbinde ich mit
meiner Kindheit. Was ich weiß, ist, dass mich dort eine tiefe Zufriedenheit
erfüllt hat. Ich habe nichts vermisst, mich quälte auch nicht der Gedanke,
herausfinden zu müssen, wer ich wirklich bin. Was mich jedoch bis heute quält,
ist der Gedanke, damals auch meinen Glauben vergessen zu haben, meine Liebe zu
Gott, all das, wofür ich seit meinem sechzehnten Lebensjahr gelebt habe. Nachdem
mir durch Pater Baptista meine Identität zurückgegeben worden war, übernahm ich
eine Missionarsstelle in Nordamerika. Ich hatte angenommen, dass, wenn ich den
Glauben verbreite, ihn auch selbst wiederfinden würde. Das Gegenteil trat ein.
Ich durfte erleben, wie einfache Menschen auch ohne den Glauben an den christlichen
Gott den Sinn des Lebens erfahren konnten. Schmerzlich musste ich erkennen,
dass unser Missionarseifer dort sehr viel mehr zerstört, als er Gutes bewirkt. Viele
Wege führen zur Erlösung und der christliche scheint nur einer davon. Diese
Erfahrungen sind es, die mich zweifeln lassen. Welcher Mensch bin ich wirklich?
Jener, der ich vor dem Schiffbruch war, oder jener, der ich jetzt bin? Ich war einmal sicher, dass Gott die
Antwort auf alle meine Fragen ist. Heute frage ich mich, ob ich einer
Selbsttäuschung erlegen bin. Hat Gott mich deshalb verlassen? Der Pater General
hat mir die selben Fragen gestellt. Er hat mein Gesuch um Suspendierung
abgelehnt und stattdessen verlangt, dass ich mich einige Monate selbst prüfe.
Ich habe zugestimmt. Das kann ich jedoch nur in der Abgeschiedenheit eines
Klosters tun. Darum muss ich gehen.“
Emilia hatte
ihm mit wachsendem Staunen gelauscht. Niemals hätte sie gedacht, dass der
selbstsichere und aufrechte Francesco jemals an sich zweifeln könnte -
geschweige denn, dass er es ihr gegenüber eingestehen würde. Es zerriss ihr das
Herz, ihn so zu sehen. Wenn sie seinen Glauben an Gott früher auch verdammt hatte,
so wünschte sie sich heute nur eines: Dass Francesco seinen inneren Frieden
wiederfand. Und obwohl alles in ihr danach drängte, ihn anzuflehen, sie nicht
zu verlassen, sagte sie mit abgeschnürter Kehle: „Dann musst du gehen. Ich
wünsche dir von ganzem Herzen, dass du deinen Glauben wiederfindest. Kehr
zurück, wann immer du möchtest. Ich werde immer deine Freundin sein.“ Im
Begriff ihn erneut zu verlieren, wurde ihr bewusst, wie sehr sie ihn noch immer
liebte.
Emilias süßes
Gesicht war Francesco ganz nah. Er sah ihre Augen, die wie zwei blaue Sterne funkelten.
Fasziniert näherte er sein Gesicht dem ihren. Dieses eine Mal hatte die
Leidenschaft seine Augen verdunkelt. Und der Funke sprang über… Er küsste sie. Er küsste sie!
Emilia wurde
von Schwindel erfasst, doch bevor sie völlig den Kopf verlor, löste sie sich in
einem puren Akt des Willens von ihm. „Nein…“ Sie kannte ihn inzwischen zu gut
und wusste, er würde es später bitter bereuen. Es war ein einfacher
Abschiedskuss, nicht mehr, aber auch nicht weniger.
Francesco
ließ sie sofort los. Emilia hatte das jähe Gefühl, als würde ihre Umgebung alle
ihre Farben verlieren.
„Du hast Recht“,
entgegnete Francesco gepresst und stand auf. „Komm, ich geleite dich ins Haus
zurück.“ Er nahm seine Jacke auf und bot ihr seine Hand. Schweigend legten sie
den Weg zurück.
Ihr Abschied
war kurz und förmlich, dabei brannten ihre Lippen noch von dem soeben
ausgetauschten Kuss.
Ein zartes
Lächeln erhellte Emilias Augen, während sie ihre Lippen mit den Fingern
berührte. Francesco hatte sie nicht wie ein Priester geküsst, sondern wie ein
Mann, dessen Leidenschaft entfacht worden war.
XVI
Serafina kehrte von ihrem Ausgang zurück. Sie hatte den Vater
einer überaus begabten Schülerin aufgesucht, die seit einer Woche nicht mehr in
der Schule erschienen war. Wieder einmal hatte sie Überzeugungsarbeit leisten
müssen. Sie erlebte oft, dass Väter ihre Meinung urplötzlich änderten. Dafür
gab es
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