Das Hospital der Verklärung.
betrunken war, ist ihm nichts zugestoßen. Damals haben sie ihn noch ganz sachte an den Beinen herausziehen können. Aber später ist er doch noch draufgegangen. Im Transformatorenhaus hat’s ihn erwischt. Und als ich ihn im Krankenhaus besuche, liegt er da, von oben bis unten eingemummt. Ich soll ihm mal den Arm hochheben, sagt er. Ich tue es: unter der Achsel der blanke Knochen, kein bißchen Fleisch mehr dran. Und er ist auch bald gestorben.«
Woch verstummte und blies den Rauch aus. Die Erinnerungen hatten ihn ganz in ihren Bann gezogen.
»Die Gewerkschaft richtete ihm eine Beerdigung aus, mit allem Drum und Dran. Und für seine Familie haben sie auch gesorgt. So war das früher – mehr Leben als Sterben. Aber dann, neunzehnhundertdreißig, begannen die Entlassungen. Das war was!«
Er drückte angewidert die Zigarette aus.
»Ich leitete damals eine Notdienstkolonne. Da sitzt man also bis in die Nacht und wartet. Schäden kommen immer mal vor; hier verbrennt der Strom einen Vogel, da schmeißt ein Dummkopf einen Ast auf die Leitungen, oder ein Kind verursacht mit seinem Drachen einen Kurzschluß. Na ja, und in dem Jahr kam etwas Neues hinzu: Wir fanden den ersten Selbstmörder. Das vergesse ich mein Lebtag nicht. Hatte der Bursche doch einen Stein an einem Draht festgemacht, das freie Ende um die Hand gewundenund den Stein auf die Leitungen geworfen. Ganz schwarz war er, die Hand abgefallen und ringsum alles voll von geschmolzenem Fett. Hätte ich ihn wenigstens nicht gekannt! Er hatte beim Durchlauferhitzer gearbeitet, bis man ihn als Junggesellen auf die Straße setzte. Die Junggesellen wurden nämlich zuerst entlassen. Bei den Mädchen hatte er Glück gehabt, war ja auch ein hübscher Junge gewesen. Ja, die Leute wußten damals noch nicht, wie leicht einen die Elektrizität das Leben kosten kann; seitdem kam so etwas immer häufiger vor. Viel gehörte nicht dazu; die Franzosen, die bei uns das Ortsnetz verlegten, hatten ja die Leitungen dicht an der Fußgängerbrücke vorbeigeführt, um Kabel einzusparen. Man brauchte also nur einen Stein und etwas Draht, weit zu werfen hatte man nicht.«
Woch umklammerte den Rand des Tisches mit der ganzen Hand, als wollte er ihn anheben.
»Wenn das Telefon im Dienstzimmer schrillte, wurde uns jedesmal ganz komisch zumute. Beim dritten Fall packte einen schon die Wut – die ganze Stadt war auf dem laufenden. Dem Kraftwerk gegenüber lag das Arbeitsamt. Als wir einmal hinausfuhren, war das Gebäude von Arbeitslosen belagert. Einer schrie: ›Die elektrischen Seelenfänger sind da!‹ Und mein Monteur Pieluch brüllt von oben zurück: ›Geht doch in den Fluß, dann habt ihr mit den Seelenfängern nichts mehr zu tun!‹ Ich sage Ihnen, die das Wort ›Fluß‹ hören … Ein Glück, daß der Chauffeur den rechten Moment abgepaßt hat; wir konnten gerade noch ausrücken. Die Steine flogen nur so. Den Pieluch, den hatte ich selbst kurz zuvor eingestellt, weil seine Frau so krank war und mir das leid tat. Als Monteur taugte er nichts. Ich hätte hundert bessere an seiner Stelle haben können. Mich packte ganz einfach die Wut. ›Wochenlang hast du dort herumgestanden‹, sage ich, ›und jetzt, wo dumal Arbeit gerochen hast, schickst du deine Kumpels ins Wasser?‹ Da wurde er patzig. Er war überhaupt so ein Hitzkopf. Ein Wort gab das andere – ich hab ihn kurzerhand rausgeschmissen. Er kam ja immer wieder an und jammerte und flehte, ich solle Mitleid haben, er habe nichts zu essen, seine Frau liege im Sterben … Was sollte ich mit ihm tun? Die Frau starb wirklich. Im Spätsommer. Auf dem Heimweg von der Beerdigung steckte er bei mir den Kopf durchs Fenster – ich hatte gerade Dienst – und sagte ganz leise: ›Für dich ist ein schneller Tod noch viel zu gut!‹ Es dauerte keine Woche, und wir mußten wieder zur Brücke wegen eines Leitungsschadens. Ich traue meinen Augen nicht, der Tote ist er! Gebraten wie eine Gans! Seine Brust faßte sich an wie ein Geigenkasten – völlig ausgedörrt!«
Unterdessen setzte der Alte den beiden zwei Blechteller mit dicker Suppe vor, er selbst ließ sich auf einer Kiste neben dem Tisch nieder und nahm den dampfenden Topf zwischen die Knie. Alle drei begannen zu essen – Woch und der Alte langsam, mit Bedacht, Stefan hingegen unvorsichtig, so daß er sich gleich beim ersten Löffel die Zunge verbrühte. Er ließ sich nichts anmerken und blies von da an nur energisch auf den Löffel. Nach beendetem Mahle erschien die Blechdose mit
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