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Das Hospital der Verklärung.

Das Hospital der Verklärung.

Titel: Das Hospital der Verklärung. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stanislaw Lem
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nicht warum, impulsiv die Nachttischlampe an. Das Licht brannte, natürlich, und doch erschien es ihm in diesem Augenblick als ein Symbol, als ein Zeichen dafür, daß Woch auf seinem Posten war.
    Dieses gelbe Licht, das unpersönlich das Zimmer füllte, hatte etwas Beruhigendes, das die Ungezwungenheit jeglichen Tuns und jeglicher Betrachtungen gewährleistete; bei seinem Schein konnte man geborgen von Welten phantasieren, die ganz anders waren als die bestehende.
    »Ach was, schlafen«, sagte er zu sich. »Mir fällt ja doch nichts ein.« Als er von neuem die Hand zum Schalter ausstreckte, bemerkte er auf dem Nachttisch ein aufgeschlagenes Buch, den ersten Band von »Lord Jim«, den er geradelas. Er schaltete die Lampe aus, und wieder umgab ihn die Dunkelheit. Eine plötzliche Gedankenverbindung veranlaßte ihn zu der Frage, ob Woch dieses Buch wohl lesen würde. Doch das kam ihm so unwahrscheinlich vor, daß er lächeln mußte. Woch hätte ein solches Buch gar nicht in die Finger genommen, er hatte es nicht nötig, wegen Lord Jims Problemen die Ozeane zu befahren, er hätte Conrads papierne Lösung verschmäht, denn er fällte ja solche Entscheidungen in der Praxis selbst. Wieviel ihn das gekostet hatte, wieviel Kummer und Sorgen die Beaufsichtigung der elektrischen Ströme mit sich brachte, darüber war nichts bekannt. Und wie beglückend der Umstand, daß das »wahre Leben« dem Lampenlicht seinen Schutz angedeihen ließ, ohne es dabei durch eigene Probleme zu trüben oder zu stören! Doch lieber erst gar keins anmachen oder allzuviel darüber nachdenken; das erschwerte nur das Einschlafen.
    Stefans Gedankenflug wurde ungereimter. Unter seinen geschlossenen Lidern flimmerte ein Stück Himmel und jenes Häuschen, in das die Blitze aller Gewitter einschlugen; er sah das graue, düstere Gesicht des Werkmeisters und seine groben Hände, die im Glanz der Entladungen zu erstarren schienen – und dann nichts mehr.

DR. MARGLEWSKIS VORTRAG
    I N DEN HEISSEN Julitagen bekam das Sanatorium Zuwachs, und so stellte sich das Gleichgewicht zwischen den Eingelieferten und den Genesenen wieder her. Mittags brannte die Sonne senkrecht vom Himmel. Ein kurzer Schatten nur umgab die Bäume des Anstaltsgartens, wo sich die Patienten fast unbekleidet ergingen. Abends wurde ihnen mit einer Handpumpe ein primitives Brausebad verabreicht; der Pfleger Józef der Ältere, ein hünenhafter Kerl mit altem Gesicht und jugendfrischem Körper, bediente sie träge und verschlafen.
    Stefan saß im Ambulatorium, das im Sonnenlicht Funken sprühte wie eine Quarzlampe. Er war gerade dabei, einen Neuen, einen ehemaligen KZ-Häftling, ins Aufnahmebuch einzutragen. Da schlug durch einen wunderlichen Zufall die große Tür auf, obwohl sie nur in einer Richtung geöffnet werden konnte. Marglewski, der eben im Flur vorbeiging, warf neugierig einen Blick hinein und faßte Interesse an dem Fall.
    »Hihi, eine schöne Kachexie«, rief er aus und legte dem zottigen Männchen, das in dem strahlendweißen Raum wie ein Haufen Lumpen aussah, die Hand auf den Kopf. Der Patient saß reglos auf einem Drehschemel. Zwei Furchen liefen von seinen Augen schräg zum Kinn und verloren sich im Bart.
    »Ein Schwachsinniger, wie? Ein Idiot?« fragte Marglewski, die Hand noch immer auf dem Kopf des armen Teufels. Aus seiner Tätigkeit herausgerissen, blickte Stefan ihn geistesabwesend an.
    Zwei dicke, helle Tränen rollten über die lilagefrorenen Wangen des Kranken und wurden von den Barthaaren aufgefangen. »Allerdings«, bestätigte Stefan, »ein Idiot.«
    Beim Aufstehen warf Stefan die Papiere in die Schublade und ging zu Sekulowski. Recht ungeschickt begann er ein Gespräch: Er habe gewisse Anschauungen revidiert, es sei an der Zeit, einen Teil der verrosteten Intellektuellenbagage abzuwerfen.
    »Manche Formulierungen sind doch schon veraltet«, sagte er, versuchte aber gleichzeitig, dieses Eingeständnis durch Zynismus wettzumachen. »Soeben habe ich eine Katharsis im kleinen erlebt …«
    »Voriges Jahr bekam ich bei Woydziewicz immer einen Kirsch vorgesetzt, der in mir jedesmal eine Katharsis im großen hervorrief … Ich vermute, er hat Kokain hineingeschüttet«, sagte Sekulowski; als er Stefans Miene sah, fügte er hinzu: »Aber, bitte, schießen Sie los, Doktor, ich bin ganz Ohr. Sie als Suchender haben es hier großartig getroffen. Das Irrenhaus ist doch stets der geistige Extrakt einer Epoche gewesen. In einer normalen Gesellschaft sind all die Verzerrungen,

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