Das Isaac-Quartett
mich. Hätten Sie nicht vorher anrufen können?«
»Nein«, erwiderte Isaac.
Marshalls Schreibtisch war mit Akten übersät, die an allen vier Ecken mit silbernen Nadeln durchstochen waren. Diese Nadeln mussten für Marsh wohl so eine Art Ablagesystem darstellen. In New York wirkte er erheblich magerer. Was war denn mit seinem Dubliner Hintern geworden? Sein Arsch war verschwunden. Weinte er noch immer über Blooms zerstörtes Haus? Isaac war da pragmatischer. Er konnte nicht um 7 Eccles Street trauern. Er hatte mehr als genug mit den Lebenden zu tun. Mit besonderen Narben und dem König.
»Ich möchte das Empfehlungsschreiben lesen, das ich für den kleinen Dermott geschrieben habe.«
Marshall zitterte über all den Silbernadeln. »Sie sehen doch selbst, wie’s hier aussieht. Das könnte ich in tausend Jahren nicht finden.«
»Marshall, ich helfe suchen.«
Sie beugten sich über Marshalls Aktenschränke und durchsuchten die Schubladen. Blätter zerknüllten unter Isaacs Händen. Akten zerrissen an den Ecken. Studenten klopften an die Tür. Marshall machte nicht auf. Sie brauchten eine Stunde, um Isaacs uraltes Schreiben zu finden. Es war auf einem Briefbogen der Polizei getippt. Isaac musste einen Blick auf seine eigenen Worte werfen, ehe er es wirklich glauben konnte.
… Marshall, ich weiß, Sie denken, dieser Bursche ist nur ein Gauner mit Bubiface. Er trägt Koteletten und hat einen Entenarsch. Alles an ihm ist Bronx, bis an die Augenbrauen. Ich könnte die Straßen nennen, auf denen er sich rumtreibt, kenne die Steine, die durch Fensterscheiben geschmissen hat. Aber er hat einen klugen Kopf. Der Junge kann denken. Das hat ihn von all den Todesfallen auf dem Southern Boulevard und der Boston Road ferngehalten. Vergessen Sie die beschissenen Noten. Die Highschool muss für ihn von Anfang bis Ende langweilig gewesen sein. Kann sein, dass er bei Silas Marner einschläft. Aber reden Sie mit ihm über Hamlet. Dermott kann Ihnen alles über Hysterie, Wahnsinn und Rache erzählen. lassen Sie den Jungen nicht wieder weg. Es wäre eine Schande, wenn Columbia ihn verlieren würde.
»Isaac, ich kann Ihnen davon eine Kopie machen«, sagte Marshall. Die Aktensuche hatte ihn besänftigt.
»Schon okay, Marsh, danke. Ich werd’s jetzt nicht mehr vergessen …«
Marshall setzte sich wieder an seinen Schreibtisch. Umgeben von Akten und Nadeln starrte er die Wände an. Isaac riss sich aus seiner Tagträumerei und bemerkte Marshs Fischaugen, diesen toten, kalten Blick.
»Was ist los?«
»Sylvia hat mich verlassen …«
Isaac brauchte nicht zu hören, warum Sylvia Berkowitz vor Ulysses und Finnegans Wake geflohen war. Wie lange konnte man es neben James Joyce unter einer Bettdecke aushalten? Aber er konnte Marsh nicht einfach so sitzenlassen. »Was ist passiert?«
»Ich weiß nicht. Sie hat nichts mitgenommen … Keinen Schlüpfer. Nicht mal ihre Bücher.«
Der Fall war nicht hoffnungslos. Isaac hatte die Mittel, die vermisste Frau eines Dekans zu finden. Er konnte zur One Police Plaza fahren, dem offiziellen Sitz des First Dep, und einen Suchtrupp losschicken. Isaac war berühmt dafür, dass er bis zu den Wurzeln eines jeden Viertels hinab stieg und mit einer Handvoll Ausreißer zurückkehrte.
»Marsh, ich werde sehen, was ich tun kann.«
Die Erstsemester vor Marshalls Büro machten saure Gesichter. Isaac konnte es ihnen nicht verdenken. Seinetwegen mussten sie wahrscheinlich ihr Mittagessen sausen lassen. Isaac erinnerte sich, wie er auf Marsh gewartet hatte. Der Erstsemester mit dem Stiernacken. Isaac Sidel. Er hätte der Champion der Ringermannschaft sein müssen. Isaac war ein Teufel von dreiundachtzig Kilo. Er hatte sich aufs Ringen verlegt, weil das auf dem College die einzige Sportart war, die seinem Temperament entsprach. Football war was für die Arbeitsochsen. Zum Ringen brauchte man Durchhaltevermögen, Psychologie und starke, glitschige Arme. Und Isaacs Nacken. Niemand konnte ihn auf die Matte zwingen, wenn er eine Brücke machte. Er zuzelte vor einem Kampf Orangen aus, starrte seinen Gegner an und wärmte sich in seiner Trainingshose in den schönen Farben von Columbia auf. Er fuhr mit der Erstsemester-Mannschaft nach Yale. Der Yalie, gegen den er antrat, wurde wegen unerlaubter Griffe disqualifiziert. Das war der erste und einzige Sieg für Columbia. Isaac ging nicht mehr zum Training. Er hatte nicht die Zeit dafür. James Joyce hatte ihn am Arsch.
Er konnte sich nicht von Marshalls
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