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Das Isaac-Quartett

Das Isaac-Quartett

Titel: Das Isaac-Quartett Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jerome Charyn
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Jerónimo die Süßigkeiten zu überbringen, doch der Chinese schlief nach dem Bad eine Stunde. Er zog ein besticktes Hemd an, zwickte seine Hosenträger fest, steckte sich einen frischen Schal in die Tasche und bestellte einen starken Tee in die Hotelhalle. Dann durchquerten sie den Alameda-Park, kamen in einen älteren Teil der Stadt und sahen sich nach Jerónimo um. Chino ging an den Taco-Ständen und den Kokosnussverkäufern vorbei und wollte von einer alten Indianerin auf der Straße Teigkringel, die wie Rettungsringe aussahen, kaufen. Er wollte Coen nicht zuschauen lassen, wie zwei Jungen in einer kleinen Fabrik am Straßenrand Tortillas zubereiteten. »Komm schon«, sagte er. Sowie sie die Boulevards verlassen hatten, empfand Coen die Hitze der Straßenbasare erst richtig, nahm die Verkäufer und die Gesichter wahr. Gegen Chinos Einspruch aß er Gurkenscheiben (die mit Chilipulver bestäubt waren). Er glotzte Ladenschilder an – Tom y Jerry; La Pequeña Lulu; Fabiola Falcon. Er sah in die Fenster von Bäckereien. Chino sah Coens Tüte für Jerónimo finster an. »Fisch?«
    »Halva. Von Papa.«
    An der San Juan de Letran kamen sie an einer Pulquería (Stehausschank) nach der anderen vorbei, und die Männer, die drinnen standen, starrten den Chinamann und den Blonden an. Coen sah zunehmend weniger Frauen auf der Straße. Der Chinese bog in die Belisario Dominquez ein und blieb vor einem Haus mit einem schmutzigen Balkon und einem Innenhof stehen. »Hier wohnen die Chuetos«, sagte er. »Die Schweinefleischesser. Die christlichen Juden.«
    »Marranen?«, fragte Coen. »Ist das das Marranenviertel?«
    »Chuetos«, spottete der Chinese. Er trat in den Hof, und nach fünf Schritten tauchte sein Körper in der Dunkelheit unter. Coen blieb unter dem Balkon stehen. Als er sich an das trübe Licht zwischen den Mauern gewöhnt hatte, entdeckte er zwei kleingewachsene Jungen in Nachthemden, die im Hof Pelota spielten. Sie spielten mit geschlossenen Mündern; das einzige Geräusch entstand durch das Aufschlagen der Pelota an den Mauern. Coen verstand den Sinn ihres Spiels nicht. Sie schlugen wie alte Männer auf den Ball ein, linkisch in ihren Nachthemden, steif in der Taille und ohne überschüssige Energie. Er fragte sich, ob alle Marranenjungen mit zusammengepressten Knien geboren wurden. In der Boston Road hatten César und Alejandro einen rosa Ball mit einer Art von Fieber, mit einem Zucken in den Beinen gekickt. Selbst Jorge, der sich wegen der Vierteldollar, die er ab zehn Uhr für Papa durch die Gegend schleppte, nicht bücken konnte, und Jerónimo, in dessen Kopf nur Süßigkeiten und das absterbende Pigment seiner Haare gingen, waren lebhafter als diese beiden Jungen. In dem Moment, in dem Coen sich im Stich gelassen fühlte, tauchte der Chinese mit Cousin Mordeckay auf, einem fetteren Guzmann im Nachthemd, mit Alejandros Zügen und Jorges verschobenen Augen. Coen wurde Mordeckay als der Pole vorgestellt, »ei Polonés«. Mordeckay schien der Name zu gefallen. Chino wollte die Süßigkeiten von Coen haben. Mordeckay dankte »ei Polonés«. Dann ging er wieder ins Haus. »Komm«, sagte Chino.
    »Wo ist Jerónimo? Bringt er ihn runter? Hast du ihn nicht gesehen?«
    »Das Baby? Nein.« Der Chinese ging auf San Juan de Letran zu. »Idiot. Ihr könnt euch hier nicht treffen. Die Chuetos sind verrückt. Sie fürchten sich vor blonden Haaren. Mach dir keine Sorgen. Sie sind auch abergläubisch in Bezug auf blaue Augen. Aber alles ist arrangiert. Jerónimo kommt zu dir.«
    Er ließ Coen am nördlichen Ende des Alameda-Parks stehen. »Warte. Ich besorge die Ausrüstung für heute Abend. Du sollst lächeln, Coen. Ich habe dir gesagt, dass das Baby herkommt.«
    Mit vierzig, dreißig, zwanzig, fünfzehn, war Jerónimo Das Baby gewesen. Papa stopfte ihn mit Spinatbroten, Topal machte ihm mit einer Sicherheitsnadel die Fingernägel sauber, und jeder, der ihm auf der Straße begegnete, musste ihm die Schuhe binden. Abwechselnd wurde er von den fünf anderen Guzmanns gebadet; man konnte ihn nicht in der Wanne alleinlassen. Und doch besaß Jerónimo einen unfehlbaren Orientierungssinn, die Fähigkeit, rote und grüne Ampeln zu unterscheiden, den Scharfsinn, das grelle Gelb der Taxis zu meiden, die Kühnheit, Busfahrern Geld in die Faust zu drücken. Karamellbonbons konnte er schneller schlucken als Topal und Alejandro. Er verputzte mehr Schokolade als eine ganze Klasse Schulmädchen. Er trauerte um die gerupften Hühner in den

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