Das Jahr der Woelfe
besonders dir, Konrad, hörst du?«
»Ja, ich höre.«
»Er sagte, du solltest das häufig gebrauchen, was er dir schenkte.«
»Was hat er dir gegeben?«, rief Albert.
»Schweigt, Kinder, lasst Vater erzählen«, fiel die Mutter ihnen ins Wort.
»Es dauerte wieder eine Stunde. Dann brach ich auf. Im Wald biss mir der Pulverqualm in die Nase. Viermal musste ich absteigen und mit dem Rad auf der Schulter über Stämme steigen, die von der Gewalt der Geschosse zerfetzt und geknickt worden waren. Der Wind stand mir vor der Brust und der Schneeregen machte das Fahren schwer. Aber jetzt bin ich bei euch.«
»Nicht mehr fortgehen, Vater«, klang das Stimmchen von Franz.
»Nein, Kinder. Jetzt bleibe ich bei euch«, versprach er.
»Wie war es in Eschenwalde?«
»Tante Elisabeth und Hubertus waren fort. Das Haus stand verschlossen.«
Sie erreichten die Landstraße. Einzelne Wagen fuhren nach Norden, meist zu dritt oder viert hintereinander. Dazwischen lagen große Lücken. Der Haupttreck war fortgezogen. Konrad trieb Lotter zu einem kurzen Trab. Das Pferd ließ sich an diesem kalten Morgen nicht lange dazu auffordern. So hatten sie bald eine Wagengruppe erreicht. Vor ihnen fuhr eine leichte Kutsche. Sie sah sonderbar aus, weil außen allerlei Gerät angebunden war, Kochtöpfe und Eimer, Körbe und sogar Gartenwerkzeug, ein Spaten und eine Harke. Hoch auf dem Bock saß eine Frau, breit und dick. Sie war bis an die Ohren in einen Schafpelz eingehüllt.
»Ob wir wohl durchkommen?«, rief sie statt eines Grußes.
»Wir müssen uns sputen«, antwortete Konrad.
Sie nickte.
»Ich bin allein«, fuhr sie nach einer Weile fort. »Das ist das Beste auf der Flucht. Allein schafft man es eher.«
Konrad schwieg und dachte bei sich, dass er nicht gern allein sein möchte, gerade jetzt nicht. Große Flocken fielen weich in das Gesicht des Jungen. Er spürte, wie sie hafteten, zu kleinen Tropfen schmolzen und die Wangen hinunterrannen.
»Wir sind zu sechsen«, rief er auf einmal. »Und das ist schön.«
Die beiden nächsten Tage schleppten sich dahin. Immer noch mussten sie Pausen einlegen. Mutter hatte Schmerzen. Manchmal hielt sie sich mit beiden Händen den Leib, als ob sie das Kind fassen wollte, das sich bei dem Holpern des Wagens stark bewegte. »Den fünften Tag sind wir bereits unterwegs«, sagte Konrad. »Unser Dorf liegt schon weit weg.«
»Wohin fahren wir?«, fragte Albert.
Aber darauf gab es keine Antwort. Vater hätte sagen können: nach Nordwesten. Aber das stimmte eine Stunde später nicht mehr. Denn da stand ein Soldat mitten auf der Kreuzung und hatte sein Auto quer hinter sich gestellt. Er wies die Wagen auf die Straße nach Nordosten, die Straße zum Haff hinein.
»Warum stehst du da?«, fragte ihn die dicke Frau auf dem Kutschbock.
»Die Russen sind durch. Sie können die Straße einsehen und schießen auf alles, was sich bewegt.«
Die Frau fluchte. »Was sollen wir am verdammten Haff? Es ist zugefroren und meine Kutsche ist kein Segelschiff.«
Sie hielten am Spätnachmittag wenige Kilometer vor dem Haff. Der Vater lenkte Lotter zu einer Scheune, die geduckt in einer Senke stand. Drei Wagen standen bereits davor. Konrad band Lotter neben die anderen Pferde und schnallte ihm den Futtersack um.
Lärm schlug ihnen entgegen, als sie die Scheune betraten. In einer zugigen Ecke fanden sie Platz.
»Braunsberg brennt«, sagte Vater, der noch einmal nach Lotter gesehen hatte.
Sie traten hinaus. Der Himmel glühte dunkelrot und der feurige Schein drängte sich bis unter die niedrig hängenden Wolken.
Braunsberg! Das war für Konrad ein Traumwort. Einmal hatte Vater Hedwig und ihn mitgenommen. Sie waren über den Markt gelaufen. Da hielten die Kinder die Hände des Vaters fest und zerrten ihn von Stand zu Stand, lauschten dem Gekeife der Fischweiber und den Anpreisungen der Marktschreier.
Konrad erinnerte sich genau an eine massige Frau hinter Bergen von blutigem Fleisch, die immerzu rief: »Herrliche Waren, blütenfrisch!«
»Eine riesengroße Stadt!«, hatte Konrad zu Vater gesagt. Doch der hatte nur gelacht und gemeint, Königsberg sei viel, viel größer.
»Brennt der Dom auch?«, fragte Albert.
»Das ist ein Höllenfeuer«, antwortete ein Bauer aus Neidenburg. »Das brennt alles nieder.«
17
Es wurde eine laute Nacht. Ein Säugling schrie lange, wütend erst und, als sich niemand um ihn kümmerte, jammernd und leise. Später begannen die Hunde vor der Scheune zu jaulen und wollten sich nicht
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