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Das Jahr der Woelfe

Das Jahr der Woelfe

Titel: Das Jahr der Woelfe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Willi Faehrmann
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Pferde und Menschen. Da griffen die Soldaten in die Räder. Sie hoben den Wagen an und stürzten das leichte Gefährt in den Graben. Die Pferde schleiften ihn viele Meter. Die Räder drehten sich in der Luft.
    »Weiter!«, rief der Pionier.
    Da schnalzte Vater mit der Zunge. Die Kinder verkrochen sich verängstigt in den Wagen und rückten eng zur Mutter. Plötzlich spürten sie die Kälte. So sahen sie die Toten nicht, die am Straßenrand lagen. Kinder zumeist. Erfroren. In der Nacht erfroren. Klein und spitz waren ihre Gesichter. Der Vater saß steif auf dem Bock und starrte nach vorn.
    Sie erreichten die niedrigen Häuser eines Fischerdorfes. Die Küste war nicht mehr weit.
    Da sang plötzlich ein heller Ton in der Luft und erstickte die Rufe von Wagen zu Wagen.
    »Tiefflieger!«, gellte eine Frauenstimme.
    »Raus!«, schrie Vater in den Wagen hinein. »In das Haus!« Konrad war mit einem Satz vom Wagen und half Franz. Hedwig kletterte heraus. Sie reichte Mutter die Hand. Da brausten sie heran. Schattenvögel mit riesigen Schwingen. Heulen und Dröhnen erfüllten die Luft. Dazwischen das harte, abgehackte Hämmern der Schnellfeuerkanonen. Konrad jagte in den Schutz des Hausflurs, zerrte Franz hinter sich her, warf sich zu Boden und zog den Bruder herab. Hedwig und Albert eilten hinzu. Beschwerlich kletterte Mutter vom hohen Wagen. Vater sprang ihr zu Hilfe. Da spritzte vor ihm der Schlamm auf, kleine Doppelreihen todbringender Einschläge. Nicht größer, als wenn Konrad kleine Steinchen in den Schlamm geworfen hätte.
    Einen Augenblick donnerten die Motoren dicht über sie hinweg und übertönten die Abschüsse. Konrad sah die rotblauen Flämmchen an den Mündungen aufzucken, bevor er den Kopf in die Arme barg und sich mit den Handballen die Ohren hielt. Vorsichtig schaute er nach einer Weile auf. In der Ferne klang das Geräusch der Flugzeuge wie das wütende Brummen einer Hummel. Dann verklang ihr Mordgeräusch.
    Konrad raffte sich auf. Er zitterte. Mutter eilte von Vater weg. Konrad blickte ihr nach.
    Da lag ein Junge ausgestreckt im Schlamm der Straße. Weit hatte er die Arme gebreitet, als ob er die Erde noch einmal fassen wollte. Noch bevor sie ihn erreichte, stürzte eine andere Frau neben ihm in die Knie, ohne auf den Morast der Straße zu achten. Sie hob den Knaben in ihren Schoß und wischte ihm den Schmutz aus dem Gesicht. Schlaff hing der Arm herunter und die Hand bewegte sich ohne Kraft, leblos. Hellrot lief das Blut den Ärmel entlang, sickerte in den Schmutz der Straße und vermischte sich mit dem schmutzigen, braunen Schneewasser.
    Vorn zogen die Wagen an. Eine alte gebeugte Frau trat zu der jüngeren in die Straßenmitte.
    »Lasst die Toten ihre Toten begraben, Frau«, sagte sie mit harter, rissiger Stimme.
    Wortlos ließ die junge Frau es zu, dass sie ihr das Kind vom Schoß nahm, es wie eine kostbare Last auf ausgestreckten Armen zum Rand der Straße trug und in den schweren Schnee bettete. Sie faltete dem Jungen die Hände, verweilte bei ihm und trat wieder zu der Frau, die immer noch zusammengesunken kniete und auf den schwärzlich roten Fleck auf der Straße starrte. Sie ließ sich von der Alten zu ihrem Wagen führen, schwankend, den Kopf tief gesenkt. Lotter zog an. Mutter saß stumm und strich Hedwig fortwährend durchs Haar.
    Schon gelangten sie an die letzten Häuser, da lief ein Mann ihnen entgegen. Als er näher herankam, erkannte Vater den alten Schmidthaus aus Klein-Jerutten.
    »He, Schmidthaus, das ist die falsche Richtung«, rief er.
    Der Greis trat herzu. »Lasst euch warnen, Bienmann. Sie haben am Ufer eine lange Kette gebildet und halten jeden Mann fest, ganz gleich, ob alt, ob jung.«
    »Fieber hat er«, sagte Mutter ängstlich.
    »Ich habe ja meinen Schein«, versuchte Vater sie zu beruhigen.
    »Den werfen sie dir in den Dreck.« Der Alte lief weiter.
    »Agnes, komm auf den Bock.«
    Die Mutter kletterte neben Vater.
    »Ich will vorlaufen und nachsehen, was am Ufer los ist.«
    Er drückte Mutter die Zügel in die Hände, griff unter dem Sitz nach dem Eimer und lief davon.
    Was mag er mit dem Eimer wollen?, dachte Mutter.
    Schließlich ging es weiter. Hinter der letzten Düne breitete sich die ebene Fläche des Haffs, grau, endlos. Wie eine Perlenschnur zog sich die Wagenreihe in großem Bogen darüber hin, eine Kette ohne Ende. In der Ferne verschwand der Treck wie ein dünner, weicher Bleistiftstrich.
    »Konrad«, rief Mutter. »Komm zu mir und schau nach Vater aus.«
    Konrad

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