Das Jahr der Woelfe
heiseren Schreie knarrten herüber.
Im Keller war es unterdessen lebendig geworden. Franz verlangte nach dem Frühstück und Albert fütterte seinen Nikolai mit Haferkörnern. Mutter ließ den Kamm durch Hedwigs Haar gleiten. Es glänzte und knisterte leise. Sie aßen schweigend ihr Brot und schlürften heiße Milch in wenigen Schlucken. Mutter brach sich nur ein kleines Stück Brot ab. Ihren Kopf hielt sie halb zur Treppe hingewandt. Sie horchte auf Vaters Schritte.
Noch hatten sie das Geschirr nicht in die Kiste geräumt, da polterten schwere Stiefel die Stiegen herab. Ein Unteroffizier trat ein. Die Wärme beschlug ihm die Gläser der Nickelbrille und machte ihn blind.
»Was ist denn hier los?«, rief er ärgerlich.
»Wir sind auf der Flucht«, versuchte Mutter zu erklären.
»Wären Sie das nur. Die Russen sind nicht weit. Es kam eine Meldung, sie seien mit ihren Panzern ins Nachbardorf eingedrungen. Schirren Sie an und fahren Sie, schnell.«
»Aber mein Mann …«
Er nahm die Brille ab und rieb die Gläser mit den Handschuhfingern. Seine Augen zwinkerten stark.
»Mann oder nicht. In einer Viertelstunde will ich hier niemand mehr sehen.« Er sprach barsch und bestimmt, setzte seine Brille wieder auf und erkannte die Frau und die Kinder und spürte ihre Angst.
»Was ist mit dem Mann?«, erkundigte er sich ungeduldig. »Er muss jede Minute zurückkehren. In der Nacht hat er mit dem Fahrrad noch ein einziges Mal nach Leschinen gewollt.«
»Und ist noch nicht zurück«, brummte der Unteroffizier und wiegte seinen Kopf. Doch dann verfinsterten sich seine Züge und machten das spitznasige Gesicht hart und bitter.
»Meine Frau musste auch allein fliehen. Macht euch auf, Leute, schnell.«
Er ging. Das Klappern seiner eisenbeschlagenen Stiefel verklang.
»Spann Lotter vor den Wagen, Junge, aber nicht gar so schnell. Hedwig und Albert laden unsere Sachen auf.«
»Darf ich von dem Stroh nehmen für Nikolais Kasten?«
»Aber ja, Albert.«
Sie schleppten Geschirr, Eimer, Lampe und Decken in den Wagen. Noch ehe Albert seinen Nikolai in das frisch ausgelegte Haus gesetzt hatte, kehrte der Unteroffizier mit einem Dutzend Soldaten zurück. Einer schob ein Motorrad. Sein Gesicht war gerötet vom Winterwind. Die Brust und die Windseite seines Mantels waren weiß und starr von einer dicken, feuchten Schneekruste.
»Gute Nachricht, Frau«, rief der Unteroffizier. »Er hat vor zehn Minuten deinen Mann auf der Straße überholt. Gleich wirst du ihn wiederhaben.«
Mutter schluckte. Sie goss eine Tasse voll heiße Milch und reichte sie dem Motorradfahrer. Der trank sie in einem Zug leer.
»Das taut auf«, lachte er.
»Da biegt Vater in den Weg ein, Mutter«, rief Hedwig und lief dem Radfahrer ein Stück entgegen.
Vater fuhr langsam durch Wind und Schnee. Konrad nahm ihm das Rad ab. Ein praller Rucksack war auf den Gepäckträger geschnallt. Konrad löste die Riemen und presste ihn unter den Wagensitz.
»Nun aber fort«, drängte der Unteroffizier und deutete mit dem Daumen in die Richtung zweier Einschläge, die keine fünfhundert Meter weit liegen mochten.
»Fertig?«, brachte Vater unter Keuchen und Husten hervor.
»Ja, Vater, fertig.«
»Geh du auf den Bock, Junge«, bat er Konrad und kletterte selbst unter die Plane.
Konrad fuhr an. In den Wagenspuren auf dem Weg stand das Schmelzwasser.
»Fahrt schnell, Leute, dass ihr noch herauskommt aus dem Hexenkessel«, rief der Unteroffizier ihnen nach.
Der Junge achtete scharf auf den Weg.
Nur halb lauschte er auf die Stimmen im Wagen. Doch Vaters Worte drangen deutlich zu ihm.
»Die Russen stehen noch jenseits des Flusses. Das Dorf lag wie tot. Die Hühner hatten inzwischen vierzehn Eier gelegt. Ich habe sie in das Mehl gesteckt, das im Rucksack ist. Gerade hatte ich den Sack verschnürt und auf das Rad gebunden, da wurde es taghell. Leuchtkugeln gingen am Fluss hoch, rote und weiße. Es war wie beim Feuerwerk auf dem Martinsmarkt vor dem Krieg. Dann begann die Artillerie von drüben aus allen Rohren zu schießen. Über das Dorf hinweg pfiffen die Geschosse. Sie sperrten mir den Rückweg mit einem dichten Vorhang aus Eisen, Feuer und berstendem Holz. Ich konnte nicht daran denken aufzubrechen. So ging es länger als eine Stunde. Dann war es mit einem Mal totenstill. Ich schwang mich aufs Rad. Doch war ich noch nicht am Gutshof vorbei, da ging es wieder los.«
»Ist Janosch noch dort?«, fragte Albert.
»Ja. Er lässt euch allen einen Gruß ausrichten,
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