Das Jahr der Woelfe
rutschte eine Kiste und klemmte ihr das Bein ein. Maurice sprang hinzu und auch ich ließ die Pferde los. Es war zu spät. Alle versanken. Nur ich …« Er hob den Armstumpf und ließ ihn kraftlos wieder fallen.
»Du kannst zu uns aufsteigen, Hubertus«, sagte Vater. »Wir haben einen Platz für dich.«
Was für Zeiten, dachte er. Meine Schwester Elisabeth im Haff ertrunken, von Thomas aus der Tuchler Heide keine Nachricht, Katharina auf der Flucht. Die ganze Familie auseinander getrieben. Was für harte Zeiten.
25
Allmählich wurde es laut im Hause. Der Herd in der Küche war umlagert. Blechtöpfe schepperten. Jeder wollte zuerst aus dem großen Emaillekessel kochendes Wasser schöpfen. Noch ehe die Sonne aufging, rumpelte das erste Gespann durch die Toreinfahrt aus dem Hof.
Ein graugrünes Personenauto hupte und bog von der Straße ab. Es hielt dicht vor dem mannshohen Misthaufen, der gerade abgestochen inmitten des Hofes lag. Fünf SS-Leute sprangen heraus. Sie rissen die Tür auf. »Verzeihung«, entschuldigte sich ein schmaler, hoch aufgeschossener SS-Mann mit scharfen Zügen. »Wir holen nur unsere Sachen.« Schnell und ohne ein Wort miteinander zu wechseln, nahmen sie ihre Gepäckstücke und trugen sie in das Auto. Einer kehrte noch einmal zurück, steckte den Kopf durch den Türspalt und warnte: »Eben haben sie das Nachbardorf besetzt.«
Das Auto fuhr rund um den Misthaufen und brauste durch die Einfahrt davon. Die letzten Fuhrwerke hetzten hinterher.
»Was machen wir nun?«, fragte Vater.
»Ich kann nicht weiter.« Mutter sprach leise. »Wo sollen wir auch hin?«
»Raus kommt ihr doch nicht mehr«, mischte sich der Bauer ein. »Bleibt bei mir, wenn ihr wollt. Der Hof ist groß und ich bin allein mit meiner Tochter Alma.«
»Was meinst du, Hubertus?«, fragte Vater.
»Sie holen uns früher oder später doch ein. Ich bin auch dafür, dass wir hier bleiben.«
»Also bleiben wir.«
»Wenn wir in die Küche gehen, können wir Straße und Hof überblicken«, riet der Bauer. »Es steht ein Bett dort für die Frau.«
Gespannt beobachteten sie die Straße. Einige Dörfler liefen zum Dorfkrug hinüber und kehrten bepackt zurück. Vater trat hinaus. »Was gibt es dort drüben?«
»Dort war ein Lebensmittellager.«
Wenig später sah Vater denselben Bauern noch einmal in das Gasthaus eilen. »Komm, Hubertus, wir wollen sehen, was es dort gibt.«
Sie spähten nach Russen aus, doch Straße und Felder lagen still. Kein Schuss fiel. Am Dorfkrug eilten Kinder und Frauen geschäftig umher. Sie schleppten sich ab mit Büchsen, Flaschen und Säcken.
Durch eine schmale Tür drängten sie sich. Eine wacklige Holzstiege führte in einen fast dunklen Raum. Nur allmählich erkannte Vater Pappkulissen mit spitzgiebligen Häusern und schmalen Gassen, altes Gerümpel, Möbelstücke und einen Vorhang aus grünem Samt. Er trat nach vorn und schlug ihn auseinander. Ein Saal tat sich auf. Dicht unter dem hohen Dach lief eine niedrige Fensterreihe entlang und ließ mattes Licht in den kahlen Raum dringen.
Fassungslos standen die drei und schauten auf ein Durcheinander von Konservendosen, aufgeplatzten Tüten, aus denen Kekse gefallen waren und sich auf dem Boden mit ausgelaufenem Öl und ungemahlenen Körnern vermengten. Säcke lagen aufgeschlitzt und Mehl quoll heraus, Honigeimer standen auf dem Kopf. Der gelbe, köstliche Strom sickerte zähflüssig auf die schwarzen Bretter. Zucker war zu Haufen aufgeschüttet. Darin wühlten und scharrten an die drei Dutzend Menschen, rafften zusammen, schleuderten auf den Boden, was ihnen nicht gefiel, traten achtlos Brote zur Seite und suchten nach den besten Lebensmitteln.
Vater ergriff einen leeren Zuckersack und sagte zu Alma: »Füll Konserven hinein und Brot und Kekse. Das hält sich.«
Alma half ihm den Sack auf den Rücken zu heben und belud sich selbst mit einem halben Sack Zucker.
Hubertus hatte ein festes Holzkistchen neben aufgehäuften Abfällen entdeckt.
Er sprengte den Deckel und fand die Kiste mit Weinflaschen gefüllt. Er verschloss sie wieder und trug sie eilends zum Gehöft zurück.
Dort bestieg er mit seiner Kiste den Misthaufen und steckte die Flaschen tief hinein.
»Hier wird niemand suchen«, lachte er halblaut.
»Solch ein überflüssiges Zeug«, nörgelte Alma.
Da belferte ein schweres Maschinengewehr ganz in der Nähe.
Sie hockten sich in die Küche. Hubertus bezog Posten an dem Fenster zur Straße hin und Vater setzte sich an das Hoffenster neben
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