Das Jahr der Woelfe
Mutters Bett. Die Sonne sandte ihre Strahlen schräg durch die Scheiben. Sie schnitten scharfe, dünne Kegel in die dämmrige Stube. Staubkörnchen tanzten auf den Sonnenstraßen.
Die Russen kommen! Konrad spürte sein Herz.
»Ob sie uns alle erschießen?«, fragte Albert tonlos.
Er hielt die Arme gegen seinen Leib gepresst.
»Unsinn!«, antwortete Vater barsch.
»Brennschere hat gesagt …«, versuchte Albert einzuwenden, doch Vater schnitt ihm das Wort ab:
»Brennschere hat gesagt, die Russen werden nie ihren Fuß auf deutschen Boden setzen.«
»Aber vielleicht verschleppen sie uns nach Sibirien«, sprach Albert nach einer Weile leise.
»Schweig, Albert, schweig bitte!« Hedwigs Stimme klang nach Tränen. Es war ganz still in der Stube. Das hechelnde Atmen des Bauern war zu hören. Ab und zu drang ein Geräusch aus den Ställen herüber, eine Kette klirrte, ein Pferd stampfte. Das Schweigen vermehrte Konrads Angst. »Wenn sie doch endlich kämen«, seufzte er. Alle horchten nach draußen. Mutter hielt den Rosenkranz in den Händen. Vaters Lippen bewegten sich lautlos. Konrad versuchte ein Ave, doch brachte er es nicht zu Ende. Immer wieder hetzten seine Gedanken davon, den Russen entgegen.
»Das Warten ist schrecklich«, knurrte Hubertus. Er trommelte mit den Fingern leicht und schnell auf den Fensterrahmen. In die Stille hinein klang plötzlich das wütende Gebell des Hofhundes.
»Sie kommen«, flüsterte der Bauer.
»Da ist einer«, zischelte Konrad und flüchtete zu den Geschwistern. Sie hielten den Atem an. Leichte Tritte schlurften über die Fliesen im Flur. Mit einem Stoß flog die Tür auf. Eine Maschinenpistole wurde hereingeschoben. Es folgte ein schmaler, kleiner Russe in der erdbraunen Uniform. Seine Augen durchforschten flink und ängstlich den Raum.
»Soldat?«, fragte er mit kehliger Stimme.
»Kein Soldat«, antwortete Hubertus. »Soldaten sind schon weg.«
Die Mündung der Maschinenpistole zielte gegen den Boden. Der Russe blieb dicht bei der Tür.
»Uhr«, verlangte er barsch.
Sie verstanden ihn nicht. Hubertus zuckte mit den Schultern.
»Uhr, Uhr«, rief er ungeduldig und hob den Lauf der Waffe. »Tick-tack.« Dabei reckte er seinen linken Arm. Der Ärmel fiel ein wenig zurück, und über seinem Handgelenk wurden zwei Armbanduhren sichtbar.
»Er will eine Uhr«, flüsterte Konrad. Er legte seine Hand schützend über das Uhrtäschchen. Der Bauer löste seine große Taschenuhr von der Kette und hielt sie dem Russen entgegen.
Der trat drei schnelle Schritte vorwärts, nahm die Uhr und hielt sie gegen sein Ohr. Ein Lächeln flog über sein Gesicht und er nickte beinahe freundlich. Die Beute glitt in die Tasche.
»Frau krank?«, fragte er und wies auf Mutter.
Vater nickte. Der Soldat schritt rückwärts zur Tür zurück. Er ließ die Stube und ihre Insassen nicht aus den Augen.
»Wir bekommen ein neues Baby!«, sagte Franz laut.
Der Russe verstand ihn nicht, doch lachte er gutmütig, griff in die Tasche und warf Franz ein Zuckerstückchen zu. Der war viel zu unbeholfen, um es aufzufangen. Es kullerte unter das Bett. Franz kroch ihm nach, sodass schließlich nur noch seine Beine zu sehen waren. Der Soldat drehte sich um, doch blickte er über die Schulter zurück, bis er durch die Tür aus dem Haus war.
»Wir sind gut weggekommen«, atmete Alma auf.
»Lob den Tag nicht vor dem Abend«, mahnte der Bauer.
»Sie laufen über die Straße«, berichtete Hubertus.
Erst zog eine Gruppe Schützen vorbei, dann folgten zwei leichte Panzer. Konrad trat zu Hubertus und spähte durch eine Spalte zwischen Gardine und Fensterrahmen. Auf dem letzten Panzer hockte ein junger, breitschultriger Mongole mit schräg stehenden Augen. Erschrocken fuhr Konrad zurück.
»Bleib, wo du bist, Junge«, befahl Vater.
»Es biegt einer zum Gehöft ein«, flüsterte Hubertus. Wenig später knallten Stiefel hart auf den Boden. Der hat keine Angst, dachte Konrad. Schon schritt er herein. »Soldat?« Die gleiche Frage wie vorhin. Konrad nahm seine Uhr fest in die Hand. Die würde er nicht hergeben.
»Kein Soldat«, antwortete Hubertus.
»Bauer, komm, bistra, bistra, schnell, schnell!«
Der Bauer stand auf, langsam, zittrig. Dann sank er wieder auf den Hocker zurück. Der Russe lachte, als er die Angst sah. Nicht lustig klang das, eher zufrieden.
»Du, komm!«, rief der Soldat und zeigte auf Vater. Er drehte sich um und schritt voran, ohne abzuwarten, ob sein Befehl befolgt wurde. Vater folgte ihm
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