Das Jesus Video
den Fundkasten hervorzuziehen. Der verbeulte Stahlblechdeckel schepperte leise, als er ihn abnahm, und da lagen die Papiere immer noch. In dem dämmrigen Tageslicht, das in das Innere des Zeltes sickerte, sahen sie noch krümeliger und hoffnungsloser aus als am Abend zuvor. Unvorstellbar, daß diese Blätter zweitausend Jahre in der Erde überdauert hatten. Ohne die Plastikhülle wäre längst nichts mehr von ihnen übrig gewesen. Stephen mußte an die Berge von Plastiktüten und Joghurtbechern denken, die überall auf der Welt in Mülldeponien lagerten, und schauderte bei dem Gedanken an deren Unzerstörbarkeit.
Ob das wirklich der Brief eines unbekannten Zeitreisenden war? Man sah nichts, keinerlei Schriftzeichen. Das mußte nichts bedeuten; nach so langer Zeit mochte die Schrift verblaßt sein und sich erst unter ultraviolettem Licht oder im Röntgenbild offenbaren. Aber welchen Grund konnte dieser hypothetische Zeitreisende gehabt haben, einen solchen Brief zu schreiben?
Stephen Foxx saß da, starrte auf die grauen, bröseligen Artefakte hinab und spürte, wie seine Überlegungen gegen eine Wand liefen.
Wie war das abgelaufen? Oder, besser gesagt, wie würde das ablaufen? An irgendeinem Tag in einigen Jahren würde der Unbekannte, ausgerüstet mit einer Videokamera, die Zeitreise antreten. Zweitausend Jahre in die Vergangenheit, ohne die Möglichkeit einer Rückkehr. Er würde seine Aufnahmen machen, die Kamera konservieren und an einem Ort deponieren, der mit seinen Helfern in der Zukunft — seiner Gegenwart — abgesprochen war, und dann sein Leben in der Vergangenheit beschließen. Seine Helfer aber brauchten einfach nur die Zeitmaschine abzuschalten, hinüberzuspazieren zu dem abgesprochenen Felsbrocken und die Kamera auszueraben, die sie gerade eben in eine Jahrtausende entfernte Vergangenheit geschickt hatten.
Welchen Grund sollte der Zeitreisende in diesem Arrangement gehabt haben, einen Brief zu schreiben? Darüber mußte man einmal gründlich nachdenken.
Die der Windseite des Lagers zugewandte Seite des Zelts wölbte sich mit einem sanften Knistern nach innen. Durch einen kleinen Spalt am Boden schimmerte helles Licht herein. Draußen begann der Tag.
Hmm. Stephen setzte den Deckel zurück auf den Kasten. Er mußte dringend herausfinden, was auf diesen Papieren geschrieben stand. Höchst dringend.
Vielleicht war es ein Brief an die Helfer, der berichtete, daß das Unternehmen schiefgegangen war.
Rafi tat, was jeden Morgen seine erste Aufgabe war: Er stellte Fundkästen bereit, für jeden Grabungshelfer einen, sorgfältig geleert und ausgefegt. Den Rest des Tages würde er mit einer Handvoll Helfer unter dem weitgespannten Zeltdach sitzen, den Sand und die Erde aus den noch nicht geleerten Fundkästen sieben und alle Funde — Zahnsplitter, Pflanzenfasern, winzige Tonscherben und dergleichen — sorgfältig sichten, auf Karteikarten vermerken und in kleine Plastiktüten sortieren, die zusammen mit den Karteikarten abgeheftet wurden. Um die Funde eindeutig den Grabungsplätzen zuordnen zu können, bekam jeder Helfer einen Zettel, den er zuunterst in seinen Fundkasten legte und auf dem sein Name stand, das Tagesdatum, die genaue Bezeichnung des Grabungsareals und eine laufende Nummer, die in einem dicken Logbuch vermerkt wurde. Diese Zettel vorzubereiten war Rafis zweite Aufgabe an jedem Morgen; eine Aufgabe, die volle Konzentration erforderte, damit sich keine Fehler einschlichen. Deshalb war es ihm nicht sonderlich angenehm, daß Professor WilfordSmith ausgerechnet jetzt hier herumstehen mußte, als habe er überhaupt nichts anderes zu tun.
»Ah ja. Mmmh. So. Aha.«Der Professor stand über die letzten Notizen gebeugt, hob ab und zu eines der Plastiktütchen gegen das Licht und legte es mit sinnierendem Nicken wieder an seine ursprüngliche Stelle. Rafi versuchte, sich auf das Ausfüllen der Zettel zu konzentrieren, aber das wunderlich wirkende Gebrabbel des Grabungsleiters irritierte ihn ziemlich.
»Wird ein heißer Tag heute, was, Rafi?«rief WilfordSmith plötzlich.
»Ja, Sir.«Rafi versah einen weiteren Zettel mit einer Num-mer, die er sofort auf einer der sonnengegerbten Seiten des Logbuchs vermerkte.
»Nicht wahr? Ein heißer Tag, ja. Eigentlich ist ja jeder Tag heiß um diese Jahreszeit.«
»Das stimmt, Sir.«Nun den Namen des Grabungshelfers eintragen, und den Grabungsplatz, für den er eingeteilt war. Und sich nicht durcheinanderbringen lassen.
»Und sonst? Alles in
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