Das Jüngste Gericht: Die Wissenschaft der Scheibenwelt 4 (German Edition)
Anwaltsgilde, obwohl sie kein systematisches Rechtssystem besitzt. Das ist nicht anders zu erwarten: Anwälte lassen sich von solchen Kleinigkeiten nie stören. Sie hat allerdings eine traditionelle Methode, juristische Streitfragen zu klären. Eine Gerichtsverhandlung, der Lord Vetinari, Patrizier von Ankh-Morpork, vorzusitzen das Recht hat, wenn er es denn will. Auf der Scheibenwelt wie in vielen Teilen der Rundwelt sind Meinungsverschiedenheiten über das Gesetz oder behauptete Gesetzesverletzungen formalen Prozeduren unterworfen. Dazu gehören oft ein geschriebener Korpus von Gesetzen, Präzedenzfälle (die mit der Sache oft gar nichts zu tun haben), Argumente, Gegenargumente, Expertenaussagen und … ach ja, Beweise.
Aber was gilt eigentlich als Beweis?
Auf der Rundwelt, sogar in Ländern, die sich für demokratisch halten, besteht ein erstaunlich großer Teil des Gerichtsprozesses darin, dass die eine oder andere Partei durchzusetzen versucht, maßgebliche Beweise auszuschließen oder zuzulassen. Wobei sie ihr Möglichstes tut, die Geschworenen im Sinn ihres Mandanten zu beeinflussen, faule Kompromisse schließt und generell einen fairen Prozess torpediert. Das Gesetz triumphiert über die Gerechtigkeit.
Auch diese Tendenz ist bei Anwälten allgemein verbreitet, und zwar in beiden Welten.
Die Rundwelt hat jedoch auch Gesetze anderer Art. Ihre Bewohner nennen sie optimistisch »Naturgesetze«, womit sie die Regeln meinen, nach denen ihre Welt funktioniert. Menschliche Gesetze können verletzt werden, Naturgesetze nicht. Es sind keine menschengemachten Festlegungen, sondern Aussagen darüber, wie sich das Universum verhält. Auch der Gerichtshof der Wissenschaft bewertet Beweise, aber zu einem anderen Zweck. Statt über Schuld oder Unschuld des Angeklagten zu urteilen, urteilen wissenschaftliche Beweise über Wahrheit oder Falschheit des Gesetzes .
Wenn es nur so einfach wäre.
So dachten wir uns das, damals in den sorglosen Zeiten, als die Schwerkraft wirklich mit dem reziproken Quadrat der Entfernung abzunehmen schien, das Licht eine Welle war und die Zeit unabhängig vom Raum. Gott war ein Mathematiker und das Universum ein Uhrwerk. Doch mittlerweile finden wir neben T-Shirts mit den Relativitätsgleichungen andere, auf denen steht: Ich war immer unbestimmt, aber inzwischen bin ich mir nicht mehr so sicher.
Das fasst ziemlich genau den gegenwärtigen Status physikalischer Gesetze unter den Wissenschaftlern zusammen. Heutzutage erwarten wir, dass altgediente »Gesetze« der Natur gelegentlich umgestoßen werden, wenn bessere Beobachtungen verfügbar werden oder neue Zusammenhänge für die Gesetze auftauchen. Die Gesetze der Chemie erlauben es nicht, unedle Metalle in Gold zu verwandeln, die Gesetze der Kernreaktionen aber erlauben es durchaus. Was wir »Gesetze« nennen, scheinen immer wieder auftretende Muster in der physikalischen Welt zu sein, die wir mithilfe mathematischer Gleichungen für bestimmte Geltungsbereiche in sehr guter Näherung erfassen können. Wir nennen sie oft »Modelle« oder »Regeln«, aber alles in allem benutzen wir das Wort »Gesetze« noch für die fundamentalsten und am besten bestätigten unter ihnen.
Diese Ablehnung von Gewissheit stärkt die Wissenschaft, weil sie den Wissenschaftlern Gelegenheit zur Änderung ihrer Ansichten gibt, wenn das Tatsachenmaterial ihre Irrtümer beweist. Aber Menschen mögen Gewissheit, und viele scheinen partout nicht zu verstehen, warum informierter Zweifel eine Stärke ist. Das eröffnet dem geschichtenerzählenden Affen, der auf Dramen im Gerichtssaal und auf dem Kampf zwischen Anklage und Verteidigung besteht, eine einmalige Gelegenheit. Der Streit kann zwischen einem Wissenschaftler und einem anderen entbrennen, weil Individuen eigene Vorstellungen davon haben, wie die Naturgesetze lauten. Oder Wissenschaft und Anti-Wissenschaft können vor das Gericht der öffentlichen Meinung ziehen – Lungenkrebs gegen die Tabakindustrie, Evolution gegen intelligentes Design, Klimawandel gegen Skepsis und Leugnung.
Damit werden nun die Naturgesetze und die menschlichen Gesetze einander dem Anschein nach viel ähnlicher, weil das Ergebnis wieder einmal nicht vom Beweismaterial als solchem bestimmt wird, sondern davon, ob es in Betracht gezogen werden darf und wie es interpretiert wird. Anstelle von Menschen, die vereint herauszufinden versuchen, wie die Natur funktioniert, haben wir nun solche, die ebendas wollen, aber auch andere, die schon zu
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