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Das Kabinett der Wunder

Titel: Das Kabinett der Wunder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marie Rutkoski
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wenn er so ernst aussah.
    Er betrachtete sie genauer. Und war ratlos. Warum waren die Kronosaugen an diesem Mädchen so interessiert? Sie war nicht besonders schön. Sie wirkte wie jedes andere Dienstmädchen in der Burg, außer vielleicht, dass sie weniger schüchtern war.Trotzdem musste er zugeben, dass sie etwas Faszinierendes an sich hatte... und auch etwas Vertrautes, als wäre ihm ihr Gesicht schon viele Male begegnet. Aber wo? Vielleicht erinnerte es ihn an ein Kunstwerk …
Nein. Prinz Rodolfo verwarf diese Idee. Das Gesicht des Mädchens war zu gewöhnlich, um ihn an irgendetwas aus seiner Sammlung zu erinnern.
    »Diese sieben Türen« - er zeigte zu den Wänden des Raums - »führen zu sieben verschiedenen Zimmern. Dir wird nur erlaubt sein, eine der Türen zu öffnen und nur einen Raum zu betreten. Du hast mein Arbeitszimmer zu säubern. Kannst du lesen?«
    Sie zögerte und gab ihm dann die Antwort, die er zu erwarten schien. »Nein.«
    »Kannst du raten, welche Tür in mein Arbeitszimmer führt? Du bekommst eine Leckerei, wenn du das kannst.«
    Petra wusste nicht, ob sie eine »Leckerei«, welcher Art auch immer, von Prinz Rodolfo überhaupt wollte. Doch als sie sich in dem Saal umblickte, war es ihr vollkommen klar, welche Tür zu seinem Arbeitszimmer gehörte, auch wenn die Türen alle gleich aussahen. Sie wusste einfach die richtige Antwort und deutete mit großer Selbstsicherheit auf die Tür, was vielleicht nicht so klug war.
    Prinz Rodolfo erschrak, doch er gab sich Mühe, das zu verbergen. »Also, ja, gut herausgefunden!« Die silbernen Augen glitzerten. »Es gibt eine Tür, die führt in einen Raum, den ich am meisten von allen schätze. Kannst du raten, welche Tür das ist?«
    Wieder beschlich Petra eine Gewissheit. Sie wollte schon die Hand heben, als Astrophil voller Sorge befahl: Zeig auf die, von der du denkst, dass sie ihm am unwichtigsten ist, Petra!
    Das tat sie.

    Der Prinz entspannte sich merklich. »Unsere Unterhaltung ist fast beendet. Ich werde in wenigen Minuten an einer Sitzung teilnehmen und muss... mich umziehen. Du wartest hier. Wenn ich meine Räumlichkeiten verlassen habe, bleibst du hier und machst mein Arbeitszimmer sauber.«
    Sie nickte.
    Der Prinz erhob sich von seinem Thron und ging langsam zu genau der Tür, auf die Petra fast gezeigt hätte. Er holte einen großen metallenen Schlüssel mit komplizierten Zacken und Schnörkeln hervor, schloss auf und trat hinein.
    Als er wenige Augenblicke später wieder auftauchte, war der Blick, den er auf Petra richtete, nicht mehr silbern, sondern normal dunkelbraun.
    Sie konnte sich nicht beherrschen. »Euer Hoheit … Eure Augen...«
    »Ja, wie ich schon gesagt habe, vieles hier ist nicht das, als was es erscheint. Ich nehme an einer Sitzung des Gerichtshofs der Löwenpranke teil und meine anderen Augen lenken bloß ab.«
    Petra wurde klar, dass die Augen ihres Vaters für Prinz Rodolfo nur ein Spielzeug waren. Sie waren etwas, um seinen Blick auf die Welt zu verändern, um ihn zu unterhalten.
    »Ich habe dir eine Belohnung versprochen.« Er hielt ihr etwas Rundes hin. Eine Orange. Orangen waren die Lieblingsfrüchte des Prinzen. Er schälte sie immer selbst und freute sich darüber, mit dem Abziehen der leuchtenden Schale die weichen Schnitze innen freizulegen. Er
mochte das Sprühen der feinen Zitrustropfen, er mochte den strengen Geschmack, und besonders mochte er, dass die Orange eine Frucht ist, die Stück für Stück gegessen werden kann.Wenn er auf einen der kieselförmigen Kerne stieß, schluckte er ihn hinunter, anstatt ihn auszuspucken, auch wenn er alleine war.
    Diese Orange jedoch war nicht dafür gedacht, gegessen zu werden. Sie war über und über mit Gewürznelken gespickt, die wie Nägel in der Frucht steckten.
    Petra nahm die Orange entgegen. Sie zwang sich dazu, wieder einen tiefen Knicks zu machen. »Ich danke Euch, Euer Hoheit.«
    Er schaute sie an. Mit seinen eigenen Augen gesehen, sah das Mädchen nach nichts aus, nach überhaupt nichts. »Du bist mir ein ziemliches Rätsel.«
    Sie sagte nichts darauf.
    »Zum Glück für dich amüsieren mich Rätsel.« Er lächelte wie ein junger Mann, der er ja auch war, wie jemand, der Spaß daran hat, sich unterhalten zu lassen.
    Als Petra die Räume des Prinzen verließ, trieb ihr ein Gedankenfetzen durch den Kopf, der immer wieder davonglitt wie ein schlüpfriger kleiner Fisch. Petra überlegte. Selbst wenn das Stehlen und Tragen der Augen ihres Vaters für den Prinzen nur

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