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Das Karpatenschloß

Das Karpatenschloß

Titel: Das Karpatenschloß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jules Verne
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kurzem Aufenthalt, währenddessen er ein wenig
    Atem schöpfte, setzte Franz seinen Weg fort, der fast endlos
    schien, bis ihn plötzlich ein Hindernis aufhielt.
    Es war das eine Backsteinmauer.
    Er tastete an dieser in verschiedener Höhe umher, fand
    aber nirgends eine Öffnung darin.
    Nach dieser Seite schien sich also kein Ausweg zu öff-
    nen.Franz konnte einen leisen Schrei nicht unterdrücken.
    Alle Hoffnung, die er genährt, zerschellte an diesem Hin-
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    dernis. Seine Knie zitterten, seine Füße versagten ihm den
    Dienst, und er fiel vor der Mauer kraftlos nieder.
    Unten im Grund aber zeigte die Querwand eine kleine
    Spalte; die Ziegelsteine hingen hier nur so lose zusammen,
    daß er sie mit den Händen entfernen konnte.
    »Hier muß ich hindurch!« rief er, »hier durch!«
    Schon begann er einen Stein nach dem andern abzulö-
    sen, als von der andern Seite ein Geräusch zu hören war.
    Franz hielt inne.
    Das Geräusch dauerte fort, und gleichzeitig stahl sich ein
    Lichtschein durch das Loch in der Mauer.
    Franz blickte hindurch.
    Da lag die alte Kapelle des Schlosses vor ihm. Der Zahn
    der Zeit und eine lange Vernachlässigung hatten sie schon
    recht weit verfallen lassen: ein Bogengewölbe war zusam-
    mengebrochen, nur dessen Rippen stützten sich noch auf
    ihre unebenen Wandsäulen, und zwei oder drei andere Bo-
    gen schienen offenbar dem Einsturz nah; ein zerbrochenes
    Fenster zeigte nur noch das zierliche Steinkreuz in gothi-
    schem Stil, da und dort lag eine überstaubte Marmorplatte,
    unter der ein Ahn der Familie von Gortz schlummerte; im
    Hintergrund der Chorhaube erhob sich der Überrest eines
    Altars mit beschädigten Skulpturen an der Rückwand, fer-
    ner ein Überbleibsel der Bedachung über der Chorwölbung,
    das vom Sturm und Wetter noch verschont war, und endlich
    am Giebel des Portals der halbzerfallene Glockenturm, von
    dem ein Seil zur Erde hinabhing – der Strang jener Glo-
    cke – die zum unaussprechlichen Entsetzen der Bewohner
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    von Werst, wenn solche in der Nachbarschaft unterwegs
    waren, zuweilen zu läuten anfing.
    In dieser seit langer Zeit verlassenen Kapelle, die jeder
    Unbill des Karpatenklimas ausgesetzt war, hatte sich ein
    Mann mit einer Stocklaterne eingefunden, deren Schein
    sein Gesicht voll beleuchtete.
    Franz erkannte den Mann sofort wieder.
    Das war Orfanik, jener Querkopf, den der Baron wäh-
    rend seines Aufenthalts in den großen Städten Italiens als
    einzigen Gesellschafter um sich hatte, jenes Originals, das
    man mit den Händen fuchtelnd, im Selbstgespräch durch
    die Straßen gehen sah; jener mißverstandene Gelehrte, je-
    ner Erfinder, der immer Trugbildern nachjagte und der
    seine Erfindungen anscheinend dem Baron von Gortz zur
    Verfügung stellte.
    Hatte Franz bisher noch den leisesten Zweifel an der An-
    wesenheit des Barons im Karpatenschloß hegen können –
    selbst noch nach dem Erscheinen La Stillas –, so verwan-
    delte sich dieser Zweifel nun in Gewißheit, da Orfanik vor
    seinen Augen stand.
    Was hatte dieser in der verfallenen Kapelle und zu so
    später Abendstunde zu schaffen?
    Franz suchte sich darüber aufzuklären und dabei sah er
    folgendes: Zur Erde niedergebeugt, hatte Orfanik mehrere
    Eisenzylinder, einen nach dem andern, aufgehoben, die er
    mit einem Faden oder Draht verband, der von einer Spindel
    im Winkel der Kapelle abrollte.
    Diese Arbeit nahm seine Aufmerksamkeit so sehr in An-
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    spruch, daß er den jungen Grafen, selbst wenn dieser sich
    ihm nähern konnte, nicht bemerkt hätte.
    Ach, warum war die Spalte, die Franz zu erweitern be-
    müht war, noch nicht groß genug, um ihm den Durchtritt
    zu gestatten! Er hätte sich in die Kapelle begeben, sich auf
    Orfanik gestürzt und ihn gezwungen, ihn zu dem Wartturm
    zu führen.
    Vielleicht war es aber ein Glück, daß er das nicht konnte,
    denn wenn sein Versuch scheiterte, hätte ihn der Baron si-
    cherlich mit dem Leben entgelten lassen, daß er seine Ge-
    heimnisse belauscht hatte.
    Wenige Minuten nach Orfanik betrat noch ein anderer
    Mann die Kapelle. Das war der Baron Rudolph von Gortz.
    Seine unvergeßliche Physiognomie hatte sich nicht ver-
    ändert. Er schien kaum gealtert zu sein, denn noch im-
    mer war sein Gesicht, das die Laterne beleuchtete, so blaß
    und länglich wie früher, das nach hinten gestrichene Haar
    ebenso halb ergraut und sein Auge bis zum Grund so fun-
    kelnd wie vor Jahren.
    Rudolph von Gortz trat näher heran, um die Arbeit

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