Das Kind der Rache
jetzt sicher die Umkleideräume.«
Bevor jemand dazu etwas sagen konnte, machte sich Carolyn
Evans, ihre junge Gastgeberin, bemerkbar. Sie befand sich auf
der Schwelle des Herrenhauses und schrie: »He! Kommt rein!«
Sie empfing ihre Freunde am Eingang. »Na, wie gefällt euch
das? Rein mit euch, die andern warten schon.«
Sie betraten die Vorhalle, die von einem prächtigen
Treppenhaus, das zum ersten Stock hinaufführte, beherrscht
wurde. Zur Rechten war ein weiträumiges Wohnzimmer zu
sehen, jenseits davon die Küche. »Es gibt außerdem noch eine
Anrichteküche für den Butler«, erklärte Carolyn. Sie sprach
jetzt lauter, weil jemand das Stereogerät auf volle Lautstärke
gedreht hatte. »Meine Mutter war nicht sicher, ob wir das
brauchen. Sie hat's dann vorsichtshalber einbauen lassen.«
»Werdet ihr einen Butler beschäftigen?« wollte Kate Lewis
wissen.
Carolyn gab sich ganz cool. »Ich weiß nicht. Ich denke ja.
Meine Mutter sagt, das Haus ist so groß, daß Maria die Pflege
der Räume allein nicht bewältigt.«
»Sprichst du von Maria Torres?« fragte Bob Carey. »Die alte
Hexe kann ja nicht mal ihre eigene Hütte in Ordnung halten.
Meine Mutter hat sie gleich am ersten Tag gefeuert.«
»Du bist ungerecht«, sagte Alex, aber seine Worte gingen im
Gelächter der anderen unter. Sogar Lisa fiel in das Lachen ein.
»Die Alte ist verrückt, Alex. Jeder weiß das.« Sie warf einen
schuldbewußten Blick in Richtung Carolyn. »Sie kann uns
doch nicht etwa hören?«
»Keine Ahnung, ob sie da ist. Wenn, dann weiß sie jetzt
wenigstens, was du von ihr hältst.«
Maria Torres, die im Treppenhaus gestanden hatte, wich in die
Düsternis des Flurs im ersten Stockwerk zurück. Sie trug ein
schwarzes Kleid, das sie fast unsichtbar machte.
Als sie das Geräusch der ankommenden Autos hörte, hatte
sie sich in dem Schlafzimmer am Ende des Korridors
aufgehalten.
Es war ungewöhnlich, daß ein Auto um diese Zeit auf den
Hof fuhr. Als Maria es sich auf einem Stuhl im Schlafzimmer
der Herrschaft bequem machte, hatte sie damit gerechnet, daß
sie alle Zeit der Welt haben würde, um von vergangenen Zeiten
zu träumen. Aber die Träume zerstoben, als die Gringo-Musik
und das Gelächter der Gringos, die Maria von Kind auf haßte,
die schönen alten Räume füllte.
Es war sieben Uhr abends gewesen, als sie das Haus betrat,
Carolyn war soeben gegangen. Vier Stunden lang war die alte
Frau durch das weitläufige Haus gestreift, hatte sich
vorgestellt, daß dies alles noch ihr gehörte, daß sie keine
Dienstbotin, sondern Herrin der Hazienda war. Dona Maria
Ruiz de Torres. Eines Tages würde es wieder so sein, wie es
einmal gewesen war. Die Gringos würden vertrieben werden,
und endlich würde sie wieder die Besitzerin des Hauses sein.
Bis es soweit war, mußte sie ihr Geheimnis bewahren. Die
Gringos, in deren Diensten sie stand, waren streng und wollten
nicht, daß sie sich während der Abwesenheit der Herrschaft im
Haus aufhielt. Deshalb war es wichtig, daß niemand sie sah,
wenn sie die Hazienda verließ, und zu ihrer Hütte hinter der
Missionskirche zurückzugehen. Wenn sie morgen zur Arbeit
kam, durfte sie sich nicht anmerken lassen, daß sie hier auch
die Stunden der Nacht verbracht hatte.
Sie warf einen letzten Blick auf die Tür des Schlafzimmers,
das von Rechts wegen ihr Schlafzimmer war, dann tat sie
etwas, was ihre stolzen Vorfahren nie getan hätten. Sie schlich
die Hintertreppe hinunter und verschwand in der Nacht...
»Mann!« flüsterte Bob. »Das letzte Mal, als ich hier war, sah es
wie nach einem Bombenabgriff aus. Nun schaut euch das
einmal an.«
Das Wohnzimmer war 20 Meter lang, es wurde von einem
großen offenen Kamin beherrscht.
Die Eichenbohlen des Fußbodens glänzten in dunklem
Braun. Die Wände waren weiß, die Balkendecke hoch wie eine
Kathedrale.
»Das ist ja unglaublich«, stieß Lisa hervor.
»Dabei habt ihr den größten Teil des Hauses noch gar nicht
gesehen«, sagte Carolyn. »Ihr könnt euch alles in Ruhe
ansehen. Vergeßt nicht, in den Keller zu gehen. Das ist Vaters
Reich, meine Mutter haßt den Keller.« Mit diesen Worten
mischte sich die junge Gastgeberin unter die Teenager, die zum
Rhythmus einer Reggae-Platte tanzten.
Es dauerte eine Stunde, bis Alex und Lisa das Haus besichtigt hatten. Es gab nicht weniger als sieben Schlafzimmer,
jedes davon mit einem eigenen Bad ausgestattet, außerdem
eine geräumige Bibliothek und eine Reihe kleiner Wohn-
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