Das Kreuz des Zitronenkraemers
leer zu haben, andernfalls hätte sie sich sicher verschluckt.
„Nun … der Verfasser dieser Dokumente war wohl so etwas wie mein Vorgänger.“ Jetzt konnte Anne nicht mehr still sein und fiel dem Doktor einfach ins Wort: „Sind Sie denn ein Carove Nachkomme?“
„Nein, ich meine nicht Vorgänger im familiären Bereich, sondern beruflich. Außerdem hat Herr Carove diese Papiere nicht selbst verfasst.“
„Jetzt verstehe ich gar nichts mehr.“ Anne war total enttäuscht. „Ich dachte, sein Name steht darunter?!“
„Das ist korrekt, liebe Frau Seifert, Ambrosius Carove hat diese Dokumente vermutlich in Auftrag gegeben und unterzeichnet. Aufgesetzt hat sie aber, wie ich bereits erwähnte, ein beruflicher Vorgänger meinerseits, sozusagen ein Notar des 17. Jahrhunderts. Herr Carove hat die Dokumente unterschrieben, ebenso auch der Notar. Sehen Sie diesen Namen darüber?“ Er hielt Anne die letzte Seite unter die Nase. „Unser Notar von damals hieß Gustavo Boltera. Es handelt sich bei diesen Dokumenten um Eigentumsurkunden. Sie sind nicht nur inhaltlich, sondern auch aufgrund der Schriftform wirklich äußerst bemerkenswert. Die Sprache ist italienisch, aber die gewählte Schriftform ist ein lebendiges Bespiel für den Umbruchcharakter der damaligen Zeit.“ Er machte schon wieder eine Pause und nahm einen Schluck Pellegrino. „Das 17. Jahrhundert war für die Menschen eine schwierige Zeit, sie hatten quasi das Mittelalter bereits verlassen, die Neuzeit aber noch nicht wirklich erreicht. Diese Papiere wurden 1687 aufgesetzt. Der 30 - jährige Krieg war zwar schon länger überstanden, trotzdem wechselten sich Franzosen und Spanier mit Belagerungen und Kriegshandlungen ab. Trier war sehr häufig davon betroffen und die Bevölkerung schwand nicht nur einmal um fast die Hälfte der Bewohner.“ Anne schämte sich regelrecht, wie wenig sie über Geschichte wusste. Gespannt lauschte sie weiter. „Aber jetzt bin ich vom Thema abgekommen. Wo war ich noch gleich stehen geblieben, ach ja, die Schriftform. Die Schreibweise zeigt eine Mischung oder vielmehr das Zusammenfließen von Rotunda und Gotico Antiqua. Sehen Sie, dass die Brechungen der Buchstabenbögen nur angedeutet und nicht vollständig ausgeführt sind?“ Anne starrte auf die Buchstaben und hätte genauso viel erkennen können, wenn es sich bei den schwarzen Zeichen um Fliegendreck gehandelt hätte.
„Rotunda ist eine Schriftform aus dem Mittelalter, sie wurde in Bologna entwickelt und zeigt einen ganz klar gotischen Charakter. Neben Italien verwendeten auch Südfrankreich und Teile von Spanien diese Schrift. Auch die Korrespondenz des Vatikan zu dieser Zeit war in Rotunda verfasst. Langsam löste dann die Gotico Antiqua Rotunda ab und dieser Übergang wird auf wunderbare Weise in Ihren Dokumenten deutlich.“ Dr. Mezza versank in Schweigen und blickte liebevoll auf die Papiere in seiner Hand. „Und wie gesagt, nicht nur die Schrift fasziniert mich, sondern auch der Inhalt. Diese Dokumente verdeutlichen, wie zu jener Zeit notarielle Urkunden verfasst wurden. Wie gesagt, es handelt sich um Besitzurkunden. Wenn ich die Seiten mal so überschlage“, er ließ jede Seite einzeln durch die Finger schnippen, „so handelt es sich bei dem Besitz des Herrn Carove um einen Posten von enormen Wert. Die Dokumente waren vermutlich auch zu Versicherungszwecken gedacht.“ „Gab es denn damals schon Versicherungen?“, wollte Anne verblüfft wissen. „Aber ja, sogar schon viel länger, bereits im Hochmittelalter. Mit dem Beginn des Fernhandels wurde aus dem Versichern von Gütern und Handelswaren ein blühendes Geschäft.“
Der Notar ließ die Lupe sinken und griff nach Annes Hand. „Frau Seifert, ich bin Ihnen sehr dankbar, dass Sie mir diese Papiere gezeigt haben.“ Er sah Anne dabei feierlich an. „Äh, ja, das war ja eigentlich Herrn Lehnertz Idee.“ Den Anwalt hatten beide fast vergessen. „Genau“, gab der jetzt laut von sich, „vergiss nicht, Joachim, ich war es, der sofort an dich gedacht hat, als Frau Seifert“, er lächelte Anne von der Seite an, „heute Morgen mit diesem Fund bei mir reinschneite.“
„Wie auch immer.“ Dr. Mezza hatte augenscheinlich kein Interesse an einer Unterhaltung mit Willi und wandte sich wieder Anne zu. „Frau Seifert, ich bitte Sie, diese Papiere, es handelt sich ja um Kopien, behalten zu dürfen. Ich würde sie gern noch näher erforschen. Die Originale bleiben natürlich bei Ihnen.“ Anne wusste nicht,
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