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Das Labyrinth

Das Labyrinth

Titel: Das Labyrinth Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Cruz Smith
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Geruch gewürzten Hammelfleisches, aber Arkadi war nicht hungrig. Eine solche Müdigkeit hatte von ihm Besitz ergriffen, daß er sich kaum bewegen konnte. Er stand am Fenster, sah auf die Straße hinunter und hinüber zum Bahnhof, auf die Züge, die langsam hinein- und herausfuhren. Die Schienen schimmerten silbrig wie Schneckenspuren, vielleicht fünfzig parallele Linien und immer wieder Verbindungen, um von einem Gleis auf das andere zu gelangen. Wie leicht findet sich ein Mann, ohne es zu bemerken, auf einem Gleis wieder, das parallel zu dem Leben verläuft, das er eigentlich immer führen wollte. Um dann Jahre später zu entdecken, daß es keine Verbindung mehr gibt, daß die Blumen verblüht sind und die Liebe vergangen ist. Zumindest sollte er dann alt sein, gebeugt und bärtig und mit einem Stock den Ausgang suchen und nicht nur das Gefühl haben, sich verspätet zu haben.
    Arkadi ließ sich aufs Bett fallen und sank sofort in tiefen Schlaf. Im Traum stand er in einer Lokomotive. Er war der Lokomotivführer, bis zur Hüfte nackt, und bediente die Steuerhebel und Ventile. Die Hand einer Frau ruhte leicht auf seiner Schulter. Sie fuhren an der Küste entlang. Irgendwie durchpflügte die Lokomotive den Strand. In der Ferne spiegelten die Wellen das Sonnenlicht wider. Möwen streiften das Wasser. War es ihre Hand oder die Erinnerung an ihre Hand? Er gab sich damit zufrieden, nicht hinzuschauen und die Lokomotive durch reine Willenskraft weiterfahren zu lassen. Doch die Räder kamen mahlend zum Stehen. Die Sonne ging unter. Wellen türmten sich zu schwarzen Wogen auf, die Datschen, Autos, Milizionäre, Generäle, chinesische Laternen und Geburtstagstorten mit sich trugen.
    Erschreckt öffnete Arkadi die Augen. Es war dunkel. Er blickte auf seine Uhr. Zehn Uhr abends. Er hatte gut zehn Stunden geschlafen, hatte den Anruf Peter Schillers in der Telefonzelle verpaßt - falls er überhaupt angerufen hatte.
    Jemand klopfte an die Tür. Er stand auf und schob die an der Leine trocknenden Hemden und Hosen beiseite.
    Er erkannte den Besucher nicht gleich, einen korpulenten Amerikaner mit strähnigem Haar und einem schüchternen Lächeln.
    »Ich bin Tommy. Erinnern Sie sich? Sie waren gestern auf meiner Party.«
    »Der Mann mit dem Helm, ja. Woher wußten Sie, wo ich zu finden bin?«
    »Von Stas. Ich habe ihn so lange gelöchert, bis er es mir gesagt hat. Dann habe ich hier einfach an jede Tür geklopft, bis ich Sie gefunden hatte. Können wir miteinander reden?«
    Arkadi ließ ihn herein und suchte nach einem Hemd und Zigaretten.
    Tommy trug eine Kordjacke, die an den Knöpfen spannte. Er wiegte sich auf seinen Zehen und ließ die Hände, zu losen Fäusten geballt, schlaff nach unten hängen. »Ich hab Ihnen gestern abend erzählt, daß ich mich mit dem Zweiten Weltkrieg beschäftige, dem >Großen Vaterländischen Krieg<, wie ihr ihn nennt. Ihr Vater war einer der bedeutendsten Generäle auf sowjetischer Seite. Natürlich möchte ich von Ihnen gern mehr über ihn erfahren.«
    »Ich glaube, Sie haben von mir noch überhaupt nichts über ihn erfahren.« Arkadi setzte sich, um seine Socken anzuziehen.
    »Genau das ist es, was ich meine. Die Wahrheit ist, daß ich ein Buch über den Krieg schreibe, aus sowjetischer Perspektive. Ich brauche Ihnen sicher nichts über die Opfer zu erzählen, die die Sowjets bringen mußten. Jedenfalls ist das einer der Gründe, weshalb ich bei Radio Liberty arbeite - um Informationen zu erhalten. Wenn ein interessanter Besucher kommt, interviewe ich ihn, und da ich gehört habe, daß Sie München bald schon wieder verlassen werden, bin ich gleich hergekommen.«
    Arkadi suchte nach seinen Schuhen. Er hatte Tommy nur halb zugehört. »Sie interviewen die Leute für den Sender?«
    »Nein, für mich, wegen des Buchs, und ich bin nicht nur an militärischen Fragen interessiert, sondern vor allem auch an den Persönlichkeiten. Ich habe gehofft, Sie könnten mir Näheres über Ihren Vater erzählen.«
    Der Bahnhof vor dem Fenster war ein Feld leuchtender Signale. »Wer hat Ihnen gesagt, daß ich bald wieder abreisen werde?« fragte er.
    »Die Leute sagen es.«
    »Wer?«
    Tommy stellte sich auf die Zehen. »Max.«
    »Max Albow. Kennen Sie ihn gut?«
    »Max war der Leiter der russischen Abteilung. Ich bin für das Rote Archiv tätig. Wir haben jahrelang zusammengearbeitet.«
    »Das Rote Archiv?«
    »Die größte Sammlung von Sowjet-Studien im Westen. Es gehört zu Radio Liberty.«
    »Sie waren mit Max

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