Das Lachen und der Tod (German Edition)
sich den Mund ab. »Ich will Ihnen eine Geschichte erzählen: Eine Jüdin aus ihrer Baracke hatte ein Brot gestohlen. Dafür sollte sie von der Aufseherin, einer falschen Schlange, zehn Schläge mit der Reitpeitsche bekommen. Die Jüdin war so geschwächt, dass sie die Prügel nicht überlebt hätte. Da trat Helena vor und sagte, sie habe den Diebstahl begangen. Also bekam sie die zehn Peitschenhiebe. Sie können stolz auf sie sein.«
Stolz. Sie hatten sie tatsächlich ausgepeitscht! Am liebsten hätte ich einen Stuhl durchs Fenster geworfen.
Irma kehrte in ihre Baracke zurück. Ob ich Helena von ihr grüßen könne? Ich nickte. Grosso tanzte barfuß. Was hatte ich hier eigentlich zu suchen?
»Möchtest du auch etwas trinken, Ernst?«, fragte Wer ner in der korrekten deutschen Art, die ich von meinem Vater kannte.
»Ja«, sagte ich. »Gern.«
Er schenkte mir Schnaps ein. »Ich hatte Unterricht. Klarinettenunterricht. Von Moshe.« Er zeigte auf einen der Bläser.
Die Combo spielte jetzt A Jazz Holiday – ein Stück, das perfekt in einen Stummfilm von Charlie Chaplin gepasst hätte. Ich nahm einen Schluck von meinem Schnaps.
Joachim griff in seine Brusttasche. Er zeigte mir ein Foto von seiner Familie. Mit ihren dunkel umrandeten, traurigen Augen und dem schwarzen Filzhütchen hätte seine Frau ebenfalls einem Stummfilm entsprungen sein können: Sie wäre glatt als Geliebte Chaplins durchgegangen. Die zwei besorgt dreinschauenden Kinder, die kaum älter als zehn sein durften, trugen Matrosenanzüge. Joachim zeigte auf einen von ihnen. »Das ist mein Ernst«, flüsterte er mir leise ins Ohr. »Er ist der Älteste. Und das ist Dieter. Meine Frau heißt Elisa.«
Ich sah höflich hin und dachte an all die jüdischen Familien, die es nur noch auf Fotos wie diesem hier gab. Werner war vor dem Krieg Anwalt, Joachim Geschäftsmann: Import, Export, viel Maßkleidung, auch aus Amerika. »Ich habe oft mit Juden Geschäfte gemacht«, sagte er. »Das war nie ein Problem.«
Wieder trat Stille ein.
Joachim starrte zu Boden. »Hoffen wir, dass der Krieg bald vorbei ist. Dann können wir alle wieder nach Hause zu unseren Familien.«
Zu welchen Familien?
Ich sagte nichts, aber vielleicht hätte ich das tun sollen.
Und dann waren die letzten Takte von A Jazz Holiday verklungen.
35
Der Arsch der Welt musste verschönert werden. Wegen der angekündigten Naziprominenz bekamen das Eisentor sowie die Türen und Fensterrahmen einiger Kasernen einen neuen Anstrich. Die sandigen Lagerstraßen wurden von Müll und Zigarettenstummeln gesäubert. Es tauchten Blumenkästen mit roten Geranien auf. In die Pappeln wurde eine Lichterkette gehängt. Unter den Häftlingen wurde heftig über den Besuch spekuliert. Adolf Hitler höchstpersön lich! Das war das wildeste Gerücht. Andere sprachen im Brustton der Überzeugung von einem Besuch Goebbels’, Görings oder Himmlers.
Auch im Künstlerblock machte sich Nervosität breit. Die Proben, überwiegend mit Stücken von Johann Strauss, verliefen weitaus weniger entspannt als zuvor. Manchmal konnte ich hören, wie Albert Kapinsky einen falsch spielenden Musiker anschrie. Nur Grosso schien all das ebenso kaltzulassen wie sein Lagerdasein insgesamt. Ich selbst war nach meinem jüngsten Wiedersehen mit Helena so sehr auf Überleben gepolt, dass ich bei meinen Auftritten keinerlei Risiko mehr eingehen wollte. Keine Ironie, kein Sarkas mus, kein Zynismus. Ich spielte den jüdischen Schlemihl, war bereit, mich auf eine überlegene Art kleinzumachen, um meine und Helenas Chancen auf eine gemeinsame Zukunft zu wahren.
An dem Sonntag, da die Aufführung stattfinden sollte, beschloss ich, früher als sonst mit Grosso ins Theater zu gehen. In jenen Tagen wurde das Gebäude ständig von einer SS -Spezialeinheit bewacht. In der Auffahrt standen Panzer und Sturmtruppenmitglieder in Tarnuniformen. Sie rauchten gelangweilt eine Zigarette, die Schmeisser über die Schulter gehängt. Ich hatte gehört, dass polnische Widerstandsgruppen aus der näheren Umgebung immer aktiver wurden, aber diese SS -Leute schienen die Gefahr eines Anschlags nicht sehr ernst zu nehmen.
Vor dem Theatereingang wurden wir durchsucht. Grosso kicherte. Der Saal selbst wurde von einer Gruppe Männer gründlich auf den Kopf gestellt. Mit Spiegeln an langen Stöcken liefen sie durch die Reihen und inspizierten den Raum unter den Stühlen sowie die Bühne. Zu diesem besonderen Anlass hatte man Hakenkreuzfahnen und ein großes, mit
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