Das Land jenseits des Waldes, Band I
Abendessen umzog, schien es Jan dabei überhaupt nichts auszumachen, dass sein Zimmerkamerad während des Umziehens unmittelbar neben ihm am Fenster stand. Auch dann nicht, als er ganz am Schluss seine Unterhose durch seine Schlafanzughose ersetzte. Jahrelanges gemeinschaftliches Internatsleben hatte hier ganz augenscheinlich bei Jan doch auf die eine oder auch andere Weise ihre schon rein praktischen Spuren hinterlassen. Knars war diesbezüglich wohl noch nicht so weit. Wie hätte es denn auch anders sein sollen? An seinem ersten Tag hier? Er hatte bislang immer als einziges Kind bei seinen Eltern zuhause gewohnt. Aber dort nie richtig wirklich gelebt.
»Also. Alter was is’ nun?« Jan blickte in Knars’ Richtung. »Ich hoffe doch sehr, du hast dir einen gescheiten dicken Schlafanzug eingepackt?«
Knars schüttelte leicht verschüchtert den Kopf. Bei sich Zuhause schlief er schon seit Jahren nicht mehr in einem Schlafanzug. Nicht einmal dann, wenn er krank war.
»Du hast ja gehört, was Herr Trietz gerade vorher gesagt hat«, fuhr Jan fort. »Ein wärmender Schlafanzug ist hier gewissermaßen deine Lebensversicherung. Ganz besonders in den ersten Tagen während deines Aufenthalts. Sonst geht’s dir, wenn es schlecht läuft, wie einst diesem amerikanischen Präsidenten, dessen Name mir jetzt aber partout nicht einfallen will, der sich aber schon am ersten Tag seiner Amtszeit bei seiner Angelobung in der Eiseskälte vor dem Capitol eine böse Lungenentzündung einfing und kurz, sehr kurz darauf leider von uns ging.«
»Na ja«, erwiderte Knars dezent grinsend, »Lohenmuld im November ist ja nicht mit Washington im Januar vergleichbar.«
»Schlimmer!« rief Jan. »Alter. Ich sag’s dir, dieses Gemäuer hier ist noch viel schlimmer und heizungstechnisch voll von gemeinen, geheimen und echt fiesen Tücken.«
Danach gingen sie beide nach vorne zu Tischis altem Kleiderschrank und suchten darin, ob sie unter all dem Zeug, das er bei seiner überstürzten Abreise aus Lohenmuld letzte Woche zurückgelassen hatte, etwas für Knars Passendes finden würden.
Im Tischis Plastiksack für die gebrauchten Wäschestücke fand sich ein sicher sehr angenehm zu tragender leichter Schlafanzug. Wohl eher für das Frühjahrs- oder gar Sommertrimester geeignet. Oben im Schrankregal stießen sie dann auf einen ordentlich zusammengelegten, frisch gewaschenen wirklich dick wärmenden Pyjama in dunklem Blau.
»Nimm den !« entschied Jan für seinen Mitbewohner. »Das ist bestimmt ganz genau der Richtige für deinen Zweck.«
Knars war aber dennoch nicht richtig wohl bei der Sache. Einfach das noch nicht abgeholte Zeug von seinem Vorgänger hier jetzt für sich in Beschlag nehmen? Aber man konnte das gute Stück ja nach dem Gebrauch wieder waschen und dann immer noch zurückgeben.
»Jetzt mach dir da bloß mal keine unnötigen Gedanken«, schien Jan die Zweifel seines neuen Zimmerkameraden sprichwörtlich spüren zu können. »Wenn dieses Zeug da im Schrank denn überhaupt jemals von irgendjemanden abgeholt werden sollte, dann höchstens zum Schuljahresende im Sommer. Tischi selbst hat jetzt hier bei uns in Lohenmuld ja Hausverbot. Lebenslang.«
Dann kündigte Jan an, er werde nun für wenigstens zehn Minuten ins Badezimmer gehen. Knars könne sich während dieser Zeit also ungestört umziehen, ohne dass ihm irgend etwas peinlich sein müsse, wie vorher bei seinem Kleiderwechsel vor dem Abendessen, als er bestimmt auch ganz gerne noch seine vom nachmittäglichen Drogentest ungut voll gepisste Unterhose ausgetauscht hätte, dies aber irgendwie nicht fertig gebracht hatte, während Jan in seiner Nähe gewesen war.
Prompt wurde Knars knallrot im Gesicht.
Jan fand’s wieder mal sehr amüsant.
Und Knars war’s wieder mal voll peinlich.
Dennoch nutzte er natürlich nun die Gelegenheit, nachdem Jan die Badezimmertüre hinter sich geschlossen hatte, um sich ungestört und vor allem auch unbeobachtet umzuziehen. Seine Hose und sein Hemd hängte er sorgsam auf einen Bügel außen an seinem Kleiderschrank. Sein restliches Zeug, auch die Socken, legte er nicht gar so penibel auf den Stuhl seines Schreibtisches. Er war es bisher absolut nicht gewohnt, mit jemand anderem derartig eng zusammen zu wohnen. Fast ohne alle Geheimnisse. Fast ohne jeden Abstand. Das konnte womöglich noch so richtig hart werden in den kommenden Wochen und Monaten. Aber Jan, der gerade im Bad lauthals gurgelte, schien ja dabei durchaus bereit zu sein, sich
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