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Das Leben meiner Mutter (German Edition)

Das Leben meiner Mutter (German Edition)

Titel: Das Leben meiner Mutter (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oskar Maria Graf
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spannten mich von Tag zu Tag mehr.
    In der Faschingszeit, wenn die großen Bälle abgehalten wurden, mußten wir viel mehr Brot backen. Der Maxl als Geschäftsmann sollte eigentlich diese Bälle besuchen, denn die Wirte waren gute Kundschaften von uns. Gerade jetzt aber fuhr er auffallend oft in die Stadt. Tief in der Nacht kam er heim und half einige Stunden mit. Zufällig entdeckte er einmal, auf dem Fensterbrett liegend, eine Broschüre ›Was die Sozialdemokratie den Lehrlingen zu sagen hat‹. Beckenbauer hatte sie mir gegeben. Der Maxl verfinsterte sein Gesicht. Ich bekam Herzklopfen. Diesmal aber schlug er mich nicht.
    »Ist das von Ihnen?« wandte er sich an den Gesellen.
    »Jawohl!« nickte der und setzte keck dazu: »Ich bin nämlich, wenn Sie es genau wissen wollen, Sozialdemokrat. Ich vertrete die Interessen meiner Klasse wie Sie die ihrigen.«
    Der Maxl, etwas verblüfft über diese Kühnheit, hielt kurz inne. Dann sagte er: »Das gibt’s bei mir nicht, verstanden?« Indessen der vollbärtige Geselle erwiderte ganz und gar uneingeschüchtert: »Soso! … Naja, wenn Sie meinen – ich zieh’ die Konsequenzen!« Das verdutzte den Maxl noch mehr. Wieder wußte er nicht gleich etwas darauf zu sagen, besann sich, nahm die Broschüre und meinte: »Wir reden morgen drüber.«
    Wortlos tappte er aus der Backstube. Ich war erregt und geängstigt. Der Mut Beckenbauers imponierte mir, und das machte mich auch zaghaft mutvoll.
    »Haha!« lachte der Geselle, als wir allein waren, »der Herr Bäckermeister! Die Herren Unternehmer! Auf einmal gehen ihnen die Arbeiter auf die Nerven! … Nur die Ruhe, wir Sozialdemokraten haben den Bismarck überstanden, und der Kaiser samt seinem Bülow können uns nichts mehr verbieten – und so ein Bäckermeister erst recht nicht, verstehst du, Oskarl?«
    Den Bismarck, fiel mir ein, den hatte aber doch mein Vater selig sehr verehrt. Verwirrt sah ich auf den Beckenbauer. Der redete munter weiter: »Dein Herr Bruder, Oskarl, der müßt’ uns Sozialdemokraten eigentlich dankbar sein. Wenn wir nicht gewesen wären, wär’ er vielleicht schon längst im Krieg gefallen … Nur unsere Partei hat den ganzen Schwindel mit der Marokko-Krise verhindert!«
    Richtig, fiel mir ein, seinerzeit hatte der Maxl doch immer gesagt, er müsse in den Krieg! Ich erinnerte mich auch der Predigt vom Pfarrer Jost wieder. Der hatte genau wie der Beckenbauer gegen den Krieg geredet. Hm, und damals war’s also um Marokko gegangen, und jetzt, wie der Bekkenbauer erzählte, tobte schon wieder so was wie eine Marokko-Krise. Auch redete er immer was daher vom »säbelrasselnden Kaiser« und der Londoner ›Daily-Telegraph‹-Affäre. Schon seit dem Vater mochte ich den Kaiser nicht mehr. Er schaute auf allen Bildern auch immer so stirnrunzelnd verwichtigt drein wie der Maxl.
    »Der Kaiser hat die Franzosen und Engländer arg verschnupft. Ganz wild sind sie über sein saudummes Daherreden!« politisierte der Beckenbauer weiter, als habe er einen Menschen seines Alters vor sich. »Fährt da einfach wie ein Seeräuber nach Marokko und hetzt den Sultan auf! … Und jetzt kommt außerdem raus, daß er seinerzeit mit den Engländern gegen die Buren gewesen ist! Und uns hat er weismachen wollen, er und sein Bülow sind für die Buren wie wir … Diese politische Windbeutelei hört sich bald auf!«
    Von jetzt ab hörte ich sehr genau hin, wenn zum Beispiel die Frau Direktor, die immer viele Zeitungen las, sich über den Kaiser im Laden ausließ. Überhaupt schien mir, als seien alle Herrschaften gegen ihn. Es wurde ruchbar, daß er der großen Londoner Zeitung ein Interview gegeben hatte, worin er ganz offen verriet, daß er den Engländern sogar einen genauen Generalstabsplan geliefert hatte, mit dem dieselben schließlich über die Buren siegten! Und, hatte er gesagt, Deutschland müsse eine starke Flotte haben, um »in kommenden, vielleicht nicht fernen Tagen bei der Lösung der Frage des Stillen Ozeans mitzusprechen«. Das beunruhigte jeden Eingeweihten und vor allem, wie es hieß, die Seemächte der Welt. Die Herrschaften prophezeiten genau wie der Beckenbauer den baldigen Sturz Bülows.
    »Dein Bruder, Oskarl, der ist so wie ein Kaiser im kleinen. Aber damit erreicht er bei unsereinem nichts«, sagte der Beckenbauer, und ich nickte. Er fixierte mich von der Seite und meinte: »Oskar, wenn du Arbeiter bleibst, mußt du bei den Roten stehen. Rot ist unsere Fahne!« Fast dankbar schaute ich ihm ins Gesicht,

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