Das letzte Opfer (German Edition)
sei Freiheitsberaubung. «Solange keine Leiche gefunden wurde, kann man nicht von Mord sprechen.»
«Doch, es gibt bereits Präzedenzfälle», widersprach Carmen Rohdecker. «Wo kommen wir denn hin, wenn wir Mörder ungeschoren lassen, nur weil sie raffinierter sind als andere? Aber wenn es Sie beruhigt, Doktor Brand, eine Leiche haben wir.»
Sie wandte sich an Stichler: «Mit der zweiten hat es nicht ganz geklappt. Ich schätze, dass wir noch im Laufe dieses Tages eine Aussage von Ihrer Frau erhalten.»
Stichler starrte sie an, die Stimme wollte ihm nicht gehorchen. Doch Scheib hätte nicht sagen können, ob sie vor Bestürzung oder Erleichterung schwankte. «Sie haben meine Frau gefunden?»
«Ich nicht», antwortete Carmen Rohdecker. «Herr Scheib hat den richtigen Schluss gezogen. Das ist der Vorteil eines Fallanalytikers, der sich lange Jahre mit einem bestimmten Tätertyp befasst.»
Doktor Brand betrachtete Scheib nachdenklich. Stichler machte Anstalten, sich vom Stuhl zu erheben. «Wo ist sie?»
«Im OP», sagte Carmen Rohdecker. «Bleiben Sie ruhig sitzen. Vorerst kommt niemand zu ihr, Sie bestimmt nicht.»
Darauf ging Stichler nicht ein. Er fragte auch nicht nach Karens Verletzungen, murmelte nur: «Gott sei Dank.» Dann legte er einen Arm auf den Tisch und den Kopf auf den Arm. Zwei Sekunden lang war es völlig still, nur seine Schultern zuckten, dann füllte sein hemmungsloses Weinen den Raum.
Doktor Brand wollte Einzelheiten über Karens Zustand und die Fundsituation wissen. Es interessierte ihn auch, wieso ein Fallanalytiker zugezogen worden war. Carmen Rohdecker empfahl ihm, seinen Mandanten zu fragen. Dann standen sie wieder vor der Tür, weil der Anwalt mit Nachdruck auf seinem Recht pochte, ein ungestörtes Gespräch mit Stichler führen zu dürfen. Während sie die Tür schloss, teilte Carmen Rohdecker noch mit, dass sein Mandant innerhalb der nächsten Stunde nach Köln überstellt und am nächsten Morgen dem Haftrichter vorgeführt werden sollte.
Keine Chance
An dem Sonntagnachmittag, als die Oberstaatsanwältin den Fall übernahm, sah es noch gut aus – für Thomas Scheib. Nicht für Karen oder Marko, auch nicht unbedingt für Norbert, den zwei Kölner Kriminalbeamte nicht eben sanft aus der Uni-Klinik holten, ins Polizeipräsidium schafften und einer eindringlichen Befragung unterzogen, weil Arno Klinkhammer das empfohlen hatte. Und Scheib fühlte sich nicht gut.
Einmal dachte er, Wagenbach hätte ihn besser bis zur Pensionierung in der zentralen Vermisstenstelle sitzen lassen. Und einmal wünschte er sich, er hätte im Dezember 1992 die Abgängigkeitsanzeige von Marion Schneider nicht so aufmerksam gelesen und nicht den Hinweis auf Rom entdeckt.
Carmen Rohdecker verlangte ihm das Letzte ab. Sie bestand darauf, nach Paffendorf zu fahren, bei Klinkhammer sei es gemütlicher als in ihrem Büro, auch diskreter, meinte sie. Ihr tickte wohl noch der Ausdruck Spinner im Hinterkopf. Sie wollte sich nicht zum Gespött der Kölner Kripo machen, erst einmal erfahren, was auf sie zukam. Elf Opfer? Aber keine Beweise, nur Norberts Behauptungen und ein Täterprofil.
«Sehe ich das richtig?», fragte sie. «Sie haben nichts in der Art von Haaren, Fasern, mal ein bisschen DNA oder einen Reifenabdruck an einer Fundstelle. Stichler hatte nur zwei Schwestern, von denen eine am 14. September ertrunken ist, und daraus leiten Sie ab, dass er acht, ich korrigiere, mit dieser Chinesin und Barbara Lohmann zehn Frauen getötet hat und seine eigene Frau umbringen wollte.»
«Ja», sagte er schlicht.
Klinkhammer, dem nicht entging, dass Scheib nicht in der Verfassung war, die Oberstaatsanwältin zu überzeugen, erläuterte noch einmal seine Theorie vom Mietkiller aus Frankfurt, der gekniffen hatte, und stützte sie mit ein paar Zeilen aus Karens Aufzeichnungen, die ihm in der Nacht schon bitter aufgestoßen waren. Die letzte Nacht mit Marko, so viel Leidenschaft wie noch nie. «Der Schweinehund hat sich von ihr verabschiedet», sagte Klinkhammer.
Carmen Rohdecker nickte. Und allmählich gelang es Scheib, seinen Schock zu verdrängen und wieder klar zu denken. Er versuchte den unerwarteten Fund in Frechen zu erklären und in Einklang zu bringen mit dem Bild, das er sich über lange Jahre vom Täter gemacht hatte.
So wie es sich nun darstellte, hatte Stichler mit seinem Schwager von Anfang an den passenden Ersatzmann gehabt, um Norbert, wenn es kritisch wurde, auf dem Silbertablett zu servieren. Kritisch
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